Im London des Jahres 1935 bespitzeln eine Menge Leute hinter ihren Vorhängen die Nachbarn. Was in deren Leben wirklich los ist, bekommen sie aber selten mit. Warum zum Beispiel liegt eine junge Frau tot vorm Backofen?

Stuttgart - Früher gab’s das sogar als relativ gängige Sprachformel im Alltag: den Kopf in den Gasofen legen. Wer genervt, erschöpft, deprimiert war, drohte das, meist ja nur spielerisch, an: „Ich leg noch meinen Kopf in den Gasofen.“ In C.S. Foresters lange verschollenem Roman „Tödliche Ohnmacht“ hat das eine wirklich getan, Dot, eine junge Frau, die an diesem Abend eigentlich die Kinder ihrer Schwester Marjorie hüten sollte.

 

Dass Dot irgendwann, nachdem die Kinder schon ins Bett gebracht waren, die Ritzen dicht gemacht, den Hahn aufgedreht und sich so für immer aus dem Kleine-Leute-Leben einer Londoner Vorstadt entfernt haben soll, kann sich zunächst keiner erklären. Bis der Obduktionsbericht eine Schwangerschaft der Unverheirateten vermerkt.

Kleinbürgerliche Moraltyrannei

Man sollte zweck abgründigerer Lektüre immer im Hinterkopf behalten, dass dies in einer Welt kleinbürgerlicher Moraltyrannei und vielfältiger ökonomischer Härten einst schon ausreichen konnte, dass eine Mut und Kraft völlig verlor. Aber nach einer Weile werden Marjorie und deren Mutter überzeugt sein, dass alles anders war: Dot wurde ermordet. Sie meinen auch zu wissen, von wem: von Marjories Ehemann, der die Schwägerin wohl auch geschwängert hat.

C.S. Forester, dessen Seeabenteuerromane um Horatio Hornblower Menschen noch auf Kopfreisen mitnehmen werden, wenn das letzte Exemplar einer Peter-Handke-Gespreiztheit im Museum der Unlesbarkeiten längst zu Staub zerfallen ist, gibt sich als zurückgelehnter, souveräner, beruhigend gelassener Erzähler alter Schule. Aber sein nachgerade heimtückisch angeschlagener Tonfall steht in krassem Kontrast zu dem, was Forester schildert.

Lieblosigkeit und Gewalt

Zum einen liefert der 1935 entstandene Roman „Tödliche Ohnmacht“ nämlich das ungeschminkte Bild der alltäglichen Hölle hinter der Biederfassade. Forester braucht kein Bukowski-Vokabular, um klarzumachen, dass Vergewaltigung in der Ehe für Marjorie peinigende Routine ist, dass hier alle Kleinmädchenträume vom Hausmütterchenglück längst vom schäbigen Alltag aus Misslaune, Lieblosigkeit, Gewalt und Aussichtslosigkeit zermörsert worden sind. Marjories Mann, um es mal offen zu sagen, ist ein dummer kleiner Kotzbrocken.

Zum anderen aber ist es durchaus erschreckend, mit welcher Selbstverständlichkeit Frau und Schwiegermutter sich einen zunächst nur luftigen Verdacht und dann einige immerhin nicht vollständig wegerklärbare Indizien zur Tatgewissheit pressen, wie ein Häufchen Schnee, aus dem Werferhände erst einen Ball und dann einen steinharten Eisklumpen formen.

Ein Verbrechen braut sich zusammen

Nein, dies ist kein klassischer britischer Krimi, in dem um Sekunden einer Alibikonstruktion gefeilt wird, in dem mögliche Wege, Blickwinkel, Versteckmöglichkeiten überprüft werden. Marjorie und ihre Mutter nutzen den Verdacht, um sich zuzugeben, was sie lange schon wussten: zuzutrauen wäre dem Ehemann ein Mord. Auch Marjorie könnte irgendwann ein Opfer werden, erst recht jetzt, als potenzielle Anzeigeerstatterin. Die Notwehrsituation, in der sich die Frauen finden, erwächst gar nicht so sehr aus der Schreckensszene der mit dem Kopf im Gasofen aufgefundenen Dot. Sie geht aus der zuvor bemäntelten Normalsituation hervor.

„The Pursued“, so der Originaltitel, ist kein Roman der Ermittlung, sondern der eines sich zusammenbrauenden Verbrechens. Er hatte ihn im Anschluss an seinen ersten Hornblower-Roman geschrieben, den der Autor da noch für ein Einzelstück hielt. Als ihm dann die Inspiration für ein weiteres Hornblower-Buch kam, soll er selbst den Verlag gebeten haben, „The Pursued“ noch nicht zu veröffentlichen. Heute würde man sagen, Forester wollte die Chance zur klaren Markenbildung nutzen. Danach, im Schatten der Erfolge, sei „The Pursued“ schlicht vergessen worden.

Einmischer und Denunzianten

Mag sein, dass das so war. Aber das verloren geglaubte Buch, dessen Manuskript schließlich doch noch zu Tage kam und das im Original 2011 erstveröffentlicht wurde, ist eben nicht nur etwas anderes als die Hornblower-Romane. Es ist etwas anderes als die britische Krimischule jener Jahre, es ist eine Geschichte über Ausweglosigkeit, die sich eine Weile als Spannungsschote gut geplanter Selbstbefreiung tarnt.

Es ist wirklich gruslig, wie sich Marjorie und ihre Mutter kaum bewegen können, ohne aufzufallen, wie eng der Kreis des Schicklichen ist, wie schnell sich Schnüffler, Einmischer, Denunzianten finden. Vielleicht wollte sich Forester, der mit Hornblower gerade einen großen britischen Helden erfand, nicht als Nestbeschmutzer dastehen, der das britische Anstandskonzept verachtete. Wie und was auch immer: Wir mögen ihn umso mehr für diese Mord(verdachts)geschichte.

C.S. Forester. „Tödliche Ohnmacht“. Roman, aus dem Englischen von Britta Mümmler. Dtv Premium, München. 280 Seiten, 14,90 Euro. Auch als E-Book, 12,99 Euro.