Daimler-Vorstand Thomas Weber spricht im StZ-Interview über die Modelloffensive, die Perspektiven im Ausland und die grüne Zukunftstechnik.

Stuttgart - Die Modelloffensive von Mercedes-Benz hat ihren Preis: Der Daimler-Konzern steckt so viel Geld wie nie in die Entwicklung neuer Autos und die Erforschung grüner Zukunftstechnik. Nachdem die Entwicklungsmannschaft in Deutschland aufgestockt worden ist, richtet sich das Augenmerk von Daimler-Vorstand Thomas Weber vor allem auf Standorte wie Peking oder Bangalore. Der zu Daimler gehörende Entwicklungsdienstleister MB-Tech soll zudem durch den Einstieg eines Partners unabhängiger vom Stuttgarter Autokonzern werden.

 

Herr Weber, vor Kurzem hat Daimler-Chef Dieter Zetsche eine große Modelloffensive angekündigt, mit der Mercedes-Benz bis 2020 zum weltweit absatzstärksten Premiumhersteller werden soll. Allein bis zum Jahr 2015 soll es zehn zusätzliche Modelle geben. Wie schaffen Sie das mit Ihrer Mannschaft?

Zur Vorbereitung und Umsetzung dieser Strategie haben wir bereits in den vergangenen Jahren unser Entwicklungsbudget kontinuierlich aufgestockt. Im vorigen Jahr waren es im Gesamtkonzern 4,8 Milliarden Euro, in diesem Jahr werden wir mehr als fünf Milliarden Euro für Forschung und Entwicklung ausgeben, so viel wie nie zuvor. Und im nächsten Jahr werden wir die Ausgaben von diesem Rekordniveau aus nochmals steigern.

Wie wirkt sich die Produktoffensive auf die Beschäftigung im Entwicklungsbereich aus?

In den vergangenen Jahren ist die Stammbelegschaft deutlich aufgestockt worden. In meinem Bereich, also Forschung und Entwicklung für den Gesamtkonzern und Entwicklung von Mercedes-Benz Cars, sind in den letzten vier Jahren mehr als 1200 Mitarbeiter in Deutschland hinzugekommen. Insgesamt sind es heute rund 14.700 Mitarbeiter weltweit, und das noch ohne die Nutzfahrzeug-, Van- und Busentwickler. Selbst in der Krise haben wir eingestellt, insbesondere Spezialisten für Schlüsselfelder wie alternative Antriebe, Elektrik und Elektronik sowie Kommunikationstechnik im Auto. Damit haben wir konsequent die Weichen für die Zukunft gestellt.

Es gab Kritik aus der Belegschaft, dass Leiharbeit und Werkverträge im Entwicklungsbereich eine immer größere Rolle spielen und das Unternehmen damit die Kosten drücken wolle.

Diese Vorwürfe treffen nicht zu. Über Zeitarbeit werden nur die Spitzen abgedeckt. Wir benötigen, wie die anderen Autohersteller auch, viel Flexibilität bei der Kapazität, weil es im Entwicklungsbereich immer Zyklen gibt. Vor dem Anlauf eines neuen Modells ist enorm viel zu tun, bis das Auto auf den Markt kommt. Danach kann die Entwicklungsarbeit für dieses Modell zurückgefahren werden.

Der Betriebsrat berichtet, dass ein Teil der zusätzlichen festen Stellen im Entwicklungsbereich erst auf Druck der Arbeitnehmervertreter zustande kam. Mitarbeiter externer Ingenieurdienstleister hätten im Rahmen von Werkverträgen bei Daimler gearbeitet, obwohl sie eng in die Entwicklungsteams des Unternehmens integriert waren, was bei Werkverträgen eigentlich nicht geht. Deshalb habe man die Mitarbeiter nun fest eingestellt.

In den starken Wachstumsphasen in der Vergangenheit war vielleicht nicht alles so transparent wie zum Teil gewünscht. Priorität hatte hier eindeutig, möglichst schnell große Fortschritte zu machen, zum Beispiel bei der Verbrauchsreduzierung. In einem guten Dialog mit dem Betriebsrat haben wir hier aber mittlerweile für Transparenz gesorgt. Wir setzen uns heute drei- bis viermal im Jahr gezielt zusammen, und reden über die strategisch wichtigen Themen und wie wir den Zuwachs an Aufgaben intelligent organisieren können.

Unruhe gab es in letzter Zeit auch bei der Daimler-Entwicklungstochter MB-Tech, wo bisher kein Tarifvertrag galt und jetzt über einen Haustarif verhandelt wird. Zudem soll jetzt ein starker Partner für MB-Tech gesucht werden. Ist dies der Einstieg in den Ausstieg bei dieser Tochter, weil sie zu teuer wird?

Nein, keineswegs. Ich bin sehr froh, dass wir MB-Tech haben und bekenne mich ganz klar zu unserer Tochter. Als wir MB-Tech vor zehn Jahren gegründet haben, wollten wir einen Entwicklungspartner schaffen, der eng mit uns verbunden ist. Wir haben nicht vor, uns von der MB-Tech zu trennen, sondern suchen im Rahmen unserer Wachstumsstrategie einen starken Partner. Wir wollen MB-Tech fit für die Zukunft machen, damit das Unternehmen die Marktchancen für Entwicklungsdienstleistungen noch besser nutzen kann. Dieser Markt wird stark wachsen.

Perspektiven für die Entwicklung im Ausland

Also soll MB-Tech mehr Aufträge von anderen Unternehmen an Land ziehen?

Ja! MB-Tech hatte früher einmal ausschließlich Aufträge von Daimler, heute sind es noch rund 80 Prozent. Aufträge kommen heute von unseren Zulieferern, aber auch von Wettbewerbern und zusätzlich aus anderen Branchen wie etwa aus der Luftfahrtindustrie. Unser Ziel ist, dass zukünftig 50 Prozent der Aufträge von anderen Unternehmen kommen. Um genau das zu erreichen, sprechen wir mit mehreren potenziellen Partnern über einen Einstieg und wollen bis Ende des Jahres einen Knopf dranmachen. MB-Tech ist ein Kleinod, das mit dem richtigen Partner noch wertvoller wird.

In der Belegschaft gibt es heute auch die Sorge, dass künftig immer mehr Entwicklungsaufgaben in Wachstumsmärkte wie Indien oder China verlagert werden und dies zu Lasten der Beschäftigung an den heimischen Standorten geht.

Forschung und Entwicklung ist ein enorm wichtiger Teil unseres Unternehmens und wird bei Daimler auch künftig in Deutschland verankert bleiben. Unser Ziel ist, unsere Entwicklungsaktivitäten in Wachstumsmärkten wie Indien oder China weiter stärken, aber nicht zu Lasten der Mannschaft hier. Wenn wir uns dem Wettbewerb stellen und unsere Kostenstrukturen auch hier weiterentwickeln, besteht kein Risiko für den F&E-Standort Deutschland.

Wie sehen die Perspektiven für die Entwicklung im Ausland aus?

Von den rund 14.700 Mitarbeitern in meinem Bereich arbeiten heute schon rund 1000 Mitarbeiter im Ausland. Nachdem wir die Zahl der Mitarbeiter in Deutschland in den vergangenen Jahren aufgestockt haben, werden wir jetzt ein starkes Augenmerk darauf legen, dass wir auch die Entwicklung im Ausland ausbauen. China beispielsweise fordert als Wachstumsmarkt, dass wir neben dem Ausbau der Produktion auch die Entwicklung dort intensivieren. Heute arbeiten in Peking deutlich über 100 Mitarbeiter in der Entwicklung. In naher Zukunft werden es mehrere Hundert sein. In Indien haben wir am größten Entwicklungsstandort in Bangalore heute rund 500 Mitarbeiter. Dort streben wir kurzfristig eine Verdopplung an, wobei es dabei nicht nur um Forschung und Entwicklung für das Automobil geht, sondern auch um Informationstechnik, wo Indien traditionsgemäß sehr stark ist.

Bei der Entwicklung grüner Technik setzt Daimler stark auf Allianzen mit anderen Unternehmen. In der Belegschaft wird dies mit einer gewissen Sorge registriert, weil man um die Beschäftigung fürchtet, wenn die alternativen Antriebe erst einmal ihren Siegeszug antreten.

Es wäre vermessen, wenn wir meinen würden, alles, was neu auf uns zukommt, könnten wir allein am besten. Für mich sind diese Partnerschaften kein Risiko, sondern eine Chance. Wenn wir uns bei Elektromotoren mit Bosch zusammentun, wird in der Kombination der Stärken beider Unternehmen etwas entstehen, mit dem wir vor der Konkurrenz liegen. Wenn wir in der Batterietechnik, also einem Prozess, der sehr viel mit Chemie zu tun hat, mit Evonik auf einen starken Chemiepartner setzen, dann ist das doch nur klug.

Aber können Sie nicht nachvollziehen, dass die Daimler-Mitarbeiter in den Werken Untertürkheim oder Sindelfingen Bedenken haben, wenn die Elektromotoren in Hildesheim, die Batterien im sächsischen Kamenz oder Carbonteile in einer neuen Fertigungsstätte mit dem japanischen Partner Toray in Esslingen produziert werden?

Das Elektrofahrzeug wird nicht über Nacht in großen Stückzahlen kommen. Selbst in optimistischsten Szenarien wird der Anteil reiner Elektroautos bis zum Jahr 2020 auf maximal 20 Prozent geschätzt. Dies bedeutet, dass 80 Prozent der Autos immer noch Verbrennungsmotoren haben - sei es als Hybridautos oder Range Extender, der die Reichweite eines Elektroautos verlängert. Über das nächste Jahrzehnt wird also die Bedeutung der konventionellen Antriebsvarianten weiterhin sehr hoch sein. Deshalb muss man die genannten Allianzen unter dem Blickwinkel der Zukunftssicherung sehen: Wir arbeiten gemeinsam mit Hochdruck an den technologisch besten Konzepten, basierend auf den innovativen Ideen unserer Forscher und Entwickler. Die ersten Elektromotoren werden in unserem gemeinsamen Joint-Venture in Hildesheim produziert, die ersten Batterien in Kamenz, ebenfalls in Deutschland. Und wie es weitergeht, wird sich zeigen. Ich bin aber davon überzeugt, dass wir mit den besten Konzepten, der besten Qualität und wettbewerbsfähigen Kosten nichts zu befürchten haben. Im Gegenteil, wir sind hervorragend für die kommenden Herausforderungen aufgestellt, und ich bin daher zuversichtlich für unsere Standorte.

Der Entwicklungsdienstleister MB-Tech

Umsatz: Die MB-Tech Group ist ein Entwicklungsdienstleister und Beratungsunternehmen mit Hauptsitz in Sindelfingen, das Aufträge vor allem von Autoherstellern und deren Zulieferern erhält. Im Laufe des vergangenen Jahrzehnts ist das 1995 gegründete Unternehmen stark gewachsen. Im Jahr 2010 erwirtschaftete MB-Tech einen Umsatz von 300 Millionen Euro.

Mitarbeiter: Weltweit beschäftigt die Daimler-Tochter heute rund 2900 Mitarbeiter an Standorten in Europa, Nordamerika und Asien. In Sindelfingen sind insgesamt 1800 Mitarbeiter tätig. Im Juni hat MB-Tech im ungarischen Kecskemét eine Tochtergesellschaft gegründet, die hauptsächlich das dortige neue Daimler-Werk unterstützen soll, in dem vom nächsten Jahr an die neuen Modelle der Kompaktklasse vom Band laufen. Zur MB-Tech-Gruppe gehört auch das Autotestgelände im niedersächsischen Papenburg.

Tarifverhandlungen: Anders als Daimler ist MB-Tech kein Mitglied des Arbeitgeberverbands. Das Gehalt der Mitarbeiter von MB-Tech ist in der Regel deutlich niedriger als das von Daimler-Mitarbeitern in der Forschung und Entwicklung. Auf Druck des Betriebsrats und der IG Metall wurden Verhandlungen über einen Haustarifvertrag aufgenommen, der sich nach den Vorstellungen der Gewerkschaft an den Flächentarif anlehnen soll. Bis Anfang nächsten Jahres soll ein Vergütungssystem mit klaren und einheitlichen Kriterien eingeführt werden. Bis jetzt gibt es eine große Spreizung bei den Einkommen.

Vom Lehrling zum Vorstand

Vorstand: Seit Anfang 2003 ist Thomas Weber Daimler-Vorstand. Der 57-jährige Schwabe ist für die Konzernforschung und für den Entwicklungsbereich der Personenwagensparte Mercedes-Benz Cars verantwortlich.

Ausbildung: Thomas Weber absolvierte zuerst bei Daimler eine Lehre zum Werkzeugmacher und studierte dann Maschinenbau an der Universität Stuttgart. Danach arbeitete er als Wissenschaftler an der Universität Stuttgart und beim Fraunhofer-Institut. 1987 promovierte er und stieg erneut bei Daimler ein.

Karrierestationen: Die Motorenproduktion bildete einen Schwerpunkt beim Aufstieg von Thomas Weber. Er war unter anderem Leiter des Motorenwerks Bad Cannstatt. Ein zweiter Schwerpunkt war danach die Leitung des Rastatter Pkw-Werks.