Arwed Niestroj leitet das Forschungs- und Entwicklungszentrum von Daimler im Silicon Valley. Im Interview sagt er, was die Daimler-Vorstände bei ihrem Besuch in Kalifornien erlebt haben und wie sich die Arbeitskultur in dem Autokonzern verändert hat.

Chefredaktion: Anne Guhlich (agu)

Sunnnyvale / Stuttgart - Die deutsche Autoindustrie ist nicht unbedingt für ihre demütige Grundeinstellung bekannt. Umso bemerkenswerter ist es, wenn ein Automanager dazu rät, Gründer, die heute noch unbedeutend sind, dafür zu respektieren, was sie morgen sein könnten – so wie Arwed Niestroj. Ein Gespräch über die Zukunft seiner Industrie und den Autostandort Baden-Württemberg.

 
Herr Niestroj, als Sie Ihren Job hier angetreten sind, haben Sie erst mal die Daimler-Manager ins Silicon Valley geholt. Warum?
Wer wissen will, wie das Silicon Valley und die Menschen hier ticken, muss herkommen. Das kann man nur erleben. Das kann man nicht auf Papier lesen.
Was meinen Sie damit?
Die Vorstände sind komplett in das Ökosystem hier eingetaucht. Sie haben mit Gründern, Investoren und Professoren gesprochen. Und da gab es sehr markante Momente. So hat beispielsweise ein Vorstandsmitglied zu einem Gründer gesagt: „Ich wünsche Ihnen Glück.“ Da hat der Gründer entgegnet: „Nein, ich wünsche Ihnen Glück.“ Wir müssen von dem Denken wegkommen, dass wir die Großen sind und die anderen versuchen es halt. Wir müssen erkennen, dass hier Gründer vor uns stehen, die sich zutrauen, uns komplett vom Markt zu fegen. Dieses Erlebnis muss man einmal gehabt haben. Nur so kann man verstehen, dass es die Menschen mit ihren Visionen hier wirklich ernst meinen. Und dass sie eine ganze Menge Venture Capital hinter sich haben, um ihre Ideen auch umzusetzen. Und wenn man sich anschaut, was in den letzten 20 bis 30 Jahren aus dem Silicon Valley kam, muss man zugeben, dass dieser Ort hier die Welt verändert hat.
Und eine Pilgerfahrt reicht aus, um das zu verstehen?
Natürlich nicht. Man muss sich danach überlegen, was man in seinem täglichen Umfeld ändern will. Und man muss es ins Unternehmen tragen. Wir bei Daimler unterstützen diesen Prozess mit dem Programm Leadership 2020. Es soll einen Kulturwandel einleiten, der den neuen Arbeitsweisen aus dem Silicon Valley und der immer schneller passierenden technologischen Entwicklung Rechnung tragen soll. Neben den bekannten Aspekten wie Risikobereitschaft fördern oder Scheitern als Lerngelegenheit wahrnehmen gehört dazu ganz sicher auch die Internationalisierung. Man ist keinen neuen Einflüssen ausgesetzt, wenn man immer nur zuhause bleibt. Man muss seine Leute ins Ausland gehen lassen und muss Leute aus dem Ausland herholen. Man muss seine Belegschaft gut durchmischen und dann die Perspektive des anderen auch wirklich zu verstehen versuchen.

Was der Autobauer der Zukunft den Kunden bietet

Wo hat Daimler bei diesem Kulturwandel noch Nachholbedarf?
Ein Kulturwandel passiert logischerweise nicht über Nacht. Das dauert Monate, wenn nicht gar Jahre. Dazu gehört auch, dass wir im Konzern viele Projekte jetzt ohne die Führung eines Chefs angehen und stattdessen auf die Schwarmintelligenz vertrauen. Das müssen die Menschen aber erst mal lernen. Manche Mitarbeiter kennen die Situation zunächst gar nicht, wenn ihr Chef sagt: Frag nicht mich, sondern entwickle die Lösung für dieses Problem selbst und triff mit deinem Schwarmteam eine Entscheidung.
Es heißt, die Zukunft der Autoindustrie wird längst im Silicon Valley entschieden. Wie sieht Ihre Branche in 20 Jahren aus?
Sie wird immer noch einen wesentlichen Anteil haben an dem, was uns auf der Straße bewegt. Am Ende braucht man eine Hardware, die Menschen oder Waren von A nach B bringt. Und im Moment sind es die Fahrzeugproduzenten, die diese Hardware kennen und bauen. Das kann man durch Software nicht ersetzen aber natürlich ergänzen. Der Autobauer der Zukunft bietet dem Kunden neben dem Auto unzählige digitale Dienstleistungen an und die Kunst wird sein, in der Summe eine Erfahrung anzubieten, die sinnhaft ist, dem Kunden gefällt und besser ist als der Wettbewerb.
Können Sie konkrete Beispiele nennen?
Der Autobauer organisiert künftig alle Fragen, die sich rund um die digitale, autonome und elektrifizierte Mobilität ergeben: Teile ich mein Fahrzeug? Mit wem will ich es teilen? Will ich es vermieten, während es ansonsten nur am Flughafen stünde? Will ich es nur mit Freunden teilen? Will ich es andere Leute komplett fahren lassen, damit es für mich Geld verdient? Will ich immer alleine fahren? Welches Auto nutze ich wann? Die Hersteller müssen nun also das Portfolio ihrer Mobilitätsdienstleistungen definieren. Sie müssen definieren, wie viel sie künftig am Produkt verdienen wollen und wie viel mit verschiedenen Angeboten von Mobilität.

Kooperation mit Bosch

Bei welcher dieser Anwendungen kommt Ihr Team hier in Sunnyvale ins Spiel?
Wir sind hier im Silicon Valley ganz nah dran an neuen digitalen Features für unsere Fahrzeuge wie die Google Home Integration. Manche Ideen probieren wir auch selbst gleich im Start-up-Modus im Markt aus. Darüber hinaus arbeiten wir auch mit einem großen Team am vollautomatisierten Fahrzeug. Wir kooperieren bei dem Thema mit Bosch. Darum arbeiten auch Kollegen des Zulieferers hier am Standort.
Was genau ist dabei Ihre Aufgabe?
Wir arbeiten - einfach gesagt - an dem Gehirn für automatisierte und autonome Fahrzeuge. Unsere Aufgabe ist es, die zahlreichen sensorischen Informationen des autonomen Fahrzeugs in Echtzeit zusammenzuführen. Im Fachjargon heißt das Sensorfusion.
Baden-Württemberg unternimmt ja mächtige Anstrengungen, um auch ein innovativeres Ökosystem zu schaffen. Es gibt das von Daimler initiierte Projekt Start-up Autobahn oder das von Bosch ins Leben gerufene Cyber Valley, bei dem Politik, Wirtschaft und Wissenschaft ihre Kompetenzen bündeln, um beim Thema künstlicher Intelligenz vorne dabei zu sein. Sie aber sagen, das Silicon Valley kann man nicht kopieren.
Es geht weniger darum, dass es in Baden-Württemberg nicht gelingen kann, eine ähnliche Struktur zu schaffen. Es geht vor allem um die Geschwindigkeit. Das Silicon Valley gibt das Tempo vor, in dem technologische Entwicklungen stattfinden. Und dieses Tempo ist extrem hoch. Man muss sich vorstellen, alle deutschen Autohersteller und alle Zulieferer säßen in Deutschland in einer Großstadt zusammen und würden sich durch’s tägliche Erleben gegenseitig anspornen. Das würde eine wahnsinnige Dynamik erzeugen. Und so ist das hier mit der Technologie. Es ist einfach jeder vor Ort. Das hohe Tempo ist die große Herausforderung der Zukunft. Auch für die Autohersteller. Und dazu kommt die kulturelle Frage.

Die Risikobereitschaft ist hierzulande geringer

Es heißt immer wieder, den Talenten im Land fehle der Mut, richtig groß zu denken.
Die Risikobereitschaft ist in den USA sicherlich eine andere als in Deutschland. Das kann daran liegen, dass in Amerika Jobs nicht garantiert sind. Die Arbeitsverhältnisse sind längst nicht so sicher wie in Deutschland. Hier ist man täglich kündbar. Und man kann auch selbst täglich kündigen. Es gibt also von Anfang an ein viel höheres Grundrisiko ohne ein Sicherheitsnetz Sozialversicherung. Unsere Redewendung „Schaffe, schaffe, Häusle baue“ bedeutet ja, dass die Menschen ein sicheres Arbeitsverhältnis anstreben, sich niederlassen und dann oft auch nicht mehr wegwollen. Das Sicherheitsniveau ist höher und die Risikobereitschaft ist geringer. Wer seine Visionen umsetzen will, muss bereit sein, vieles zu riskieren.
Was riskiert Ihre Branche? Daimler und Bosch wollen die ersten Robotaxis Anfang des kommenden Jahrzehnts auf die Straße bringen. Das ist sehr bald. Welche Technologie kommt danach?
Wir werden es künftig mit einem breiten Portfolio von Mobilitätsdienstleistungen zu tun haben. Da wird das autonome Fahren ein Bestandteil sein. Durch Pool-Ride-Modelle, bei denen man sich eine Fahrt mit anderen Menschen teilt, gewinnen manche Fahrzeugtypen eine ganz neue Bedeutung. Ein Van beispielsweise ist jetzt kein Transportfahrzeug mehr, sondern das perfekte Fahrzeug für Shared-Ride-Konzepte. Künftig wird man sich auch mit fliegender Mobilität auseinandersetzen. Daimler ist jetzt gerade mit elf Prozent bei dem Bruchsaler Start-up Volocopter eingestiegen, das autonome, elektrifizierte Lufttaxis herstellen will – ein tolles Beispiel für ein baden-württembergisches Start-up. Wenn man sich heute die chinesischen Städte anschaut, kann ich mir gut vorstellen, dass in Zukunft so mancher lieber in einem drohnenähnlichen Fahrzeug fliegt anstatt auf der Straße zu bleiben.