An diesem Dienstag gibt Dan Ettinger in der Liederhalle sein Antrittskonzert als Chefdirigent der Stuttgarter Philharmoniker. Ein Gespräch über Stuttgart, seine Musizierideale und seinen Mentor Daniel Barenboim.

Stuttgart – - Bis Sommer kommenden Jahres ist Dan Ettinger noch Generalmusikdirektor des Nationaltheaters Mannheim, danach möchte sich der 44-Jährige voll auf die Philharmoniker konzentrieren.
Herr Ettinger, Sie dirigieren in Wien, New York, London – was zeichnet die Stuttgarter Philharmoniker aus, dass Sie hier als Chefdirigent zugesagt haben?
Mir hat Daniel Barenboim erzählt, dass ihm der Dirigent John Barbirolli einmal einen Rat gegeben hat: „Du wirst immer bessere Ergebnisse mit deinem festen Orchester erreichen als mit Weltklasseorchestern, bei denen du gastierst.“ Ich brauche ein künstlerisches Zuhause, und das können mir die Stuttgarter Philharmoniker bieten. Man hat mit einem eigenen Orchester viel mehr, nein, unendliche Möglichkeiten der Entwicklung.
Streben Sie einen gewissen Klang an, haben Sie da Musizierideale?
Ich möchte allen Aspekten der Partitur gerecht werden, der Artikulation, der Phrasierung, der dynamischen Differenzierung. Für mich ist das Espressivo wichtig, dass die Streicher immer singen, und zum Gesang gehört Vibrato: alles mit Geschmack und stilistisch den Werken angemessen. Alle wissen, dass bei mir die Extreme sehr groß sind: Lautes ist richtig laut, Leises sehr leise. Die einen kritisieren das, andere bejubeln es.
Wollen Sie mit Ihrer Arbeit in die Stadtgesellschaft hineinwirken, wollen Sie spezifisch etwas für und in Stuttgart erreichen?
Ich möchte zunächst eine gemeinsame Sprache mit dem Orchester entwickeln. Wenn wir hier gut arbeiten, Qualität zeigen, wird das auf die Stadt ausstrahlen. Und darüber hinaus. Wenn ich in London dirigiere und die Leute mitbekommen, dass ich in Mannheim Chef bin, sagen sie: dann wird es dort wohl ein gutes Opernhaus geben. Und das sollen die Leute über mein Orchester in Stuttgart auch sagen. Leider hat die Presse das in Mannheim nicht mitbekommen. Ich hatte es in dieser Hinsicht dort sehr schwer, mir wurde immer vorgeworfen, ich sei nicht präsent, was nicht stimmt. Schade! Das finde ich provinziell.
Neue Musik spielt oft nur eine Rolle in Spezialisten-Reihen. Wie werden Sie es halten? Gibt es Komponisten, die Sie schätzen?
Ich bin im Prinzip völlig offen. Es kommt auf die Qualität an. Im November wird es die Uraufführung von Lera Auerbachs Klavierkonzert geben mit der Komponistin als Solistin – innerhalb der Abo-Reihe!
Ihr Eröffnungskonzert bestreiten Sie mit Mozart und Mahler, der eine ist sehr delikat, verzeiht keine Fehler, der andere ist instrumentaltechnisch höchst anspruchsvoll. Ist das nicht hochriskant?
Lustig, dass Sie die Komponisten so charakterisieren, man könnte es genauso gut andersherum sehen. Sicher, das sind bekannte Stücke, viele Hörer haben da einen Vergleich – aber soll ich deswegen zum Auftakt nur unbekannte Stücke spielen? Manch anderer würde das vielleicht machen, weil die Kritiker dann weniger Anhaltspunkte haben.
Leonard Bernstein hat sich als Komponist und als Dirigent, aber auch als Jude stark mit Gustav Mahler identifiziert. Spielen die Spuren jüdischer Musik in Mahlers Partituren für Sie eine Rolle?
Wenn wir jetzt über die fünfte Sinfonie reden, die wir am Dienstag aufführen, dann kann man das nur bejahen. Die Sinfonie schlägt einen Bogen vom Tod am Beginn zurück ins Leben. Und im dritten Satz hören wir die Klänge, die Mahler in seiner Umgebung wahrgenommen hat, inklusive dem Kantor in der Synagoge. Das Hornsolo in diesem Satz ist ein Kantor, und das Orchester antwortet wie die Betenden (Ettinger wippt mit dem Oberkörper vor und zurück) – das ist sehr jüdisch. Ich werde das mit einer gewissen Freiheit darstellen. Überhaupt versuche ich immer das Drama, wie ich es von der Opernbühne kenne, in sinfonische Musik einzubringen.
Proben Sie gerne, oder lassen Sie auch einen Rest unbestimmt, setzen auf den Augenblick im Konzert?
Metaphorisch gesprochen: bei mir gibt es immer zweihundert Prozent. Die ersten hundert Prozent sind das sehr gut Geprobte und dann gibt es hundert Prozent, die offen bleiben: die Akustik am Abend, die Temperatur, all das, was im Moment das Musizieren beeinflusst. Wenn ich ein Tempo im Probenraum festgelegt habe und in einen Saal komme, in dem es nicht funktioniert, dann muss ich mich anpassen.
Was ist wichtiger beim Dirigieren, Partitur- oder Menschenkenntnis, um hundert Musiker zu lenken?
(denkt lange nach) Beides ist wichtig. Ich kann die Partitur noch so gut kennen, wenn ich die Musiker nicht inspiriere, nützt das nichts.
Wie gehen Sie mit Konflikten um?
Im Prinzip halte ich es mit Papageno in der „Zauberflöte“: „Kämpfen ist meine Sache nicht!“ Ich versuche mit aller möglichen positiven Energie, die andere Seite zu überzeugen. Es ist immer einfacher, wenn man als Chefdirigent mit einem Orchester arbeitet, weil sich langfristig eine Beziehung zu den Musikern aufbauen lässt.
Einer Ihrer Mentoren war Daniel Barenboim – gibt es auch andere Dirigenten, die Sie beeindruckt haben, die Sie bewundern?
Diese ganze deutsche Schule, zu der Daniel Barenboim gehört, inspiriert mich: John Barbirolli, Wilhelm Furtwängler, Sergiu Celibidache, Herbert von Karajan. Gelernt aber habe ich alles von Barenboim während meiner Berliner Zeit.
Was verstehen Sie genau unter deutscher Tradition?
Das beantworte ich lieber nicht. Ich will nichts Falsches sagen (lacht). Ich versuche es mal: rhythmische Präzision, ohne dabei den reichen, vollen Klang aufzugeben. Das heißt nicht, dass alles schwer und langsam ist.
Es wird immer wieder behauptet, Sie seien Barenboims Sohn: Sie sehen ihm ähnlich, dirigieren im Gestus ähnlich. Möchten Sie das kommentieren?
Ich wurde einmal in Wien ausgebuht. Hinterher habe ich erfahren, warum: der Buher war ein Fan von Thielemann und Gegner von Barenboim, für dessen unehelichen Sohn er mich hielt. Nein, das ist alles Quatsch. Ich kenne meine Eltern.