Die Welt kreist im Chaos. Der Erfolgsautor Daniel Kehlmann hat aus diesem Befund in seinem neuen Roman ein packendes nihilistisches Geduldsspiel gemacht.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - In den achtziger Jahren war der Zauberwürfel äußerst beliebt. Überall saßen Leute mit konzentrierten Gesichtern herum und schraubten an dem bunten, allseitig beweglichen Plastikdings herum, um die Ordnung der Farben wieder herzustellen. Jene, denen das gelang und die an der vertrackten Erfindung des ungarischen Ingenieurs Ernö Rubik Gefallen fanden, hätte man später wohl Nerds genannt. Und vielleicht ist es ja wirklich das Aufkommen des Computers, das dieses kombinatorische Geduldsspiel wie so manches auf das Abstellgleis befördert hat.

 

Jetzt ist er wieder da. In dem neuen Roman von Daniel Kehlmann „F“ ist der Zauberwürfel nicht nur das zentrale Requisit eines vom Glauben abgefallenen Geistlichen, der sich an dem rationalen Ordnungswerk schadlos hält für das theologische Chaos, das ihn umnebelt. Nein, das ganze Buch ist in seiner ausgeklügelten Konstruktion selbst eine Art literarischer Zauberwürfel. Vieles deutet darauf hin, dass dem belletristischen Erfolgsmechaniker Kehlmann mit dieser Erzählapparatur abermals ein beachtlicher Wurf gelungen ist. Er hat beste Chancen, im Zielgebiet des Deutschen Buchpreises zu landen – auf jeden Fall wird man in der nächsten Zeit vermutlich häufiger Leute antreffen, die mit konzentrierten Gesichtern versuchen, die verdrehten Charaktere, die gestörten Beziehungen und überraschenden Korrespondenzen dieser verschobenen Welt in eine sinnvolle Ordnung zu bringen.

Nihilistische Versuchsanordnung

Vom Standpunkt des absoluten Wissens aus könnte man jeder Seite dieses Würfels eine Geschichte zuordnen: die vom Jahrmarktsbesuch Arthur Friedlands, der mit seinen drei Söhnen der Vorstellung eines obskuren Hypnotiseurs beiwohnt, danach sein bisheriges Leben aufgibt und als Autor gefährlicher Bücher zu berüchtigter Berühmtheit gelangt. Oder die Geschichte des älteren der Söhne, Martin, der mit Frauen kein Glück hat, deshalb Priester wird, den fleischlichen Genüssen entsagt, außer jenen, die auf seinem Teller landen, der sich die Zeit im Beichtstuhl statt mit dem Rosenkranz mit besagtem Zauberwürfel vertreibt und auf einen Fingerzeig Gottes wartet, den es, und da ist er sich sicher, nicht gibt.

Oder die Geschichten von Martins Halbgeschwistern Iwan und Eric, eineiigen Zwillingen, die unterschiedliche Wege gehen und doch gemeinsam scheitern, jener als Künstler, dieser als Investmentbanker – beides große Fälscher vor dem Herrn, wenn es ihn denn gäbe: von Bilanzen der eine, von Bildern der andere.

Oder die Geschichten, mit denen Arthur Friedland Aufsehen erregt, sein erster Roman „Mein Name sei Niemand“, eine nihilistische Versuchsanordnung, die zu einer an Goethes Werther gemahnenden Selbstmordwelle führt; sein zweiter Roman „An der Mündung des Flusses“, der den blinden Zufall als Grundprinzip des Lebens feiert; seine Erzählung „Familie“, die die eigene Genealogie und mit ihr alles Vergangene als Erfindung, Lug und Trug bloßstellt. Und schließlich jene Geschichten, die nicht Kehlmann, sondern das Leben selbst erfunden hat, und die gleichwohl umso beunruhigender in der künstlichen Mechanik seines Werks zirkulieren: die Lehman-Pleite oder der Skandal um den Kunstfälscher Wolfgang Beltracchi.

Der Vermessung der Welt folgt ihre Entzauberung

Für all dies steht „F“: für Fälschung, Finanzkrise, Fatum und vieles mehr. Aber weil es den Standpunkt des absoluten Wissens nicht gibt, begegnet man immer nur einzelnen Elementen, die zwar mit allem zusammenhängen, sich gegenseitig bedingen und beeinflussen, aber nicht mehr zu einem geordneten Ganzen fügen wollen. Es gehört mittlerweile zum guten Ton, dass Romane nicht mehr linear erzählt werden, dass sich der Leser die Geschichte aus einer Vielzahl von Perspektiven über Abgründe und Brüche hinweg zusammensetzen muss. Selten aber wurde aus dieser Erzählweise eine so radikale metaphysische Konsequenz gezogen. Denn das Zentrum, um das sich die Teile dieses Erzählgefüges bewegen, ist leer. Auf die „Vermessung der Welt“, mit der Kehlmann sich 2006 an die Spitze der international erfolgreichsten Autoren geschrieben hat, lässt er nun deren Entzauberung folgen.

Mit geradezu diabolischer Lust führt er die Haltlosigkeit dreier Säulen vor, auf denen das Weltgebäude ruht: Religion, Wirtschaft und Kunst. Auf die Frage, was er denn glaube, antwortet der Priester Martin: „Ich glaube, dass wir bald essen sollten.“ Dafür ergehen sich die Mitarbeiter von Erics Geldvermehrungsabteilung in parareligiöser Fachsimpelei: „Nur wer wage, sagt Lehmann, dem werde Krishna geben. Mancher wage, sagt Pöhlke gereizt, und Krishna gebe nicht. Der Gott handle in Freiheit, denn er sei die Freiheit selbst.“

Eine Welt ohne Gott ist des Teufels

Über die Kunst heißt es: „Es gibt nur Werke, unterschiedlich in Machart, Form und Wesen, und es gibt das Sturmgeflüster der Meinungen über sie“. Genau das macht sich der mittelmäßige Künstler Iwan, der über „Mediokrität als ästhetisches Phänomen“ promoviert hat, zunutze, indem er die Werke seines verstorbenen Lebensgefährten fälscht und das Sturmgeflüster des Kunstmarkts so anfacht, dass sein bankrotter Bankenbruder später einen Teil seiner Schulden über die Einträge dieses Geschäfts begleichen kann. In einer Welt, in der alles auf Manipulationen beruht, erweist sich der Künstler als der bessere Geschäftsmann. Iwan wird es am Ende nichts nützen. Er wird ein Opfer des von seinem Vater beschworenen Zufalls. Dafür erfährt der skrupellose Eric im Bankencrash jenes Zeichen, auf das sein geistlicher Bruder vergeblich hofft.

Doch ein Gott, der die Finanzkrise schickt, um die Betrügereien eines Einzelnen zu decken, ist kein Gott. Und eine Welt ohne Gott ist des Teufels. Der hat folgerichtig auch hier und dort seinen Auftritt, jedem der Brüder erscheint er einmal, als zerlumpter Mann mit hässlicher Zahnlücke und zerbeultem Hut. Der Teufel ist ein Geschöpf der literarischen Tradition wie der Vorstellungskraft und somit der Genius des Dichters, der mit seinen Ausgeburten die sinnentleerte Welt bevölkert. Bekanntlich steckt der Teufel im Detail. Und weil Kehlmann mit staunenswerter Präzision zuwege geht, hat er leichtes Spiel. Je mehr man jedenfalls diesen literarischen Zauberwürfel dreht und wendet, umso erstaunlicher, ja unheimlicher erscheint, wie weit die Sphäre seiner Kombinationen in die Wirklichkeit hineinreicht.

Angriff auf die Seele des Menschen

Dem Bann dieses nihilistischen Geduldsspiels, kann man sich nur schwer entziehen. Alles, was sich dagegen einwenden ließe, ist längst Teil des Spiels. Aber was heißt hier Spiel. „Der Würfel ist kein Spiel“, weist Martin den Spott seines Bruders über seine Leidenschaft zurück. Es liegt eine eigentümliche Pointe darin, dass dieses Trug und Täuschung zelebrierende Werk auf dem Buchmarkt vermutlich eine vergleichbare Karriere machen wird, wie die früheren Werke dieses Autors. Oder gar wie die jenes Arthur Friedland im Roman? Über dessen Buch „Mein Name sei Niemand“ rätselt sein Sohn Martin, ob es ein fröhliches Experiment und damit das zweckfreie Produkt eines spielerischen Geistes sei, oder ein böswilliger Angriff auf die Seele jedes Menschen? „Niemand weiß es so recht, vielleicht stimmt ja beides zugleich.“ Was will man soviel selbstreflexiver Ironie eigentlich noch hinzufügen?