Daniel Kehlmann schlägt sich in „Tyll“ an der Seite eines Gauklers durch die Wirren des Dreißigjährigen Krieges.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Manche halten den österreichischen Schriftsteller Daniel Kehlmann ja nicht erst seit seinem internationalem Durchbruch „Die Vermessung der Welt“ für einen literarischen Trickbetrüger, der mit schlau gemachter Roman-Artistik die Leute lustig an der Nase durch ehrwürdigste Bildungsgründe führt. „So war es immer, wenn er auftrat“, heißt es in Kehlmanns jüngstem Streich, „einigen ging es schlecht, aber die, die davonkamen, hatten großen Spaß gehabt.“

 

Der, von dem hier die Rede ist, vermag die Menschen in Bann zu schlagen. Es ist ein Charismatiker auf dem Hochseil, der in vollendeter Grazie seine Kunststücke zeigt, dem Sturz immer einen Schritt zuvorkommtend „Seiltanz: dem Fallen davonlaufen“ – auf diese Formel wird einmal die Kunst jenes Tyll Ulenspiegel gebracht, dem auf seiner Flucht durch Legenden, Erzählungen und Jahrhunderte Kehlmann in seinem neuen Roman das Seil gespannt hat.

Quacksalber, Schwindler und Dichter

Der Abgrund, über dem er tanzt, ist der Dreißigjährige Krieg, womit sogleich der Bann des historisch Überlieferten gebrochen ist. Denn jener Weltenbrand, der Städte verwüstet, Menschen vertiert und ganze Landstriche in Schutt und Asche gelegt hat, entzündet sich erst gut hundert Jahre nach dem ersten „Kurtzweilig lesen von Dyl Ulenspiegel“, mit dem 1515 der Stoff in Europa populär wurde.

Kehlmanns „Tyll“ lebt in einer Periode des Übergangs, in der sich in mühevollen Prozeduren die alte von der neuen Welt scheidet: Im Zauberkessel der Magie brodeln die Anfangsgründe der modernen Wissenschaft, ein Klimawandel macht die Böden unfruchtbar, der Religionskrieg wendet die Botschaft der Liebe in eine des Hasses – und ein alter Drache hat nach siebzehntausend Jahren Versteckspiel genug, bettet den Kopf ins Heidekraut, um mit leisem Brummen zu entschlafen.

Es ist eine Hochzeit der Scharlatanerie, der Quacksalber, Schwindler, aber auch der Dichter. Und über allen schwebt der Herr der Luft: Hofnarr, Zyniker, Jongleur, dem Himmlischen so zugewandt wie dessen Gegenteil. Denn auch der Teufel ist ein Herr der Lüfte, wie der junge Müllersohn Tyll von jenem hinterhältigen Jesuiten erfährt, der kurz darauf den freundlich-hintersinnigen Vater des Knaben als Hexer an den Galgen bringt. Es ist der Großmeister der Gelehrsamkeit Athanasius Kircher, eine von vielen in Kehlmann-Manier zurecht gestutzten historischen Gestalten, die durch die acht Stationen dieses Romans wandern: in Nebenrollen William Shakespeare, der Barockdichter Paul Fleming, der drall-pfiffige Schweden-König Gustav Adolf; zentraler dann das historische Unglücksraben-Paar, die theaterbegeisterte englische Prinzessin Elisabeth Stuart und ihr Mann, der pfälzische Kurgraf Friedrich V., der sich in Prag zum König krönen ließ und dadurch erst das ganze Kriegsschlammassel ausgelöst hat.

Pulp Fiction des großen Gemetzels

Worin besteht nun diese Manier? Im konsequenten Unterlaufen des Respekts und des Pomps, der mit erhabenen Namen und Situationen einher geht. Virtuos beherrscht Kehlmann die lakonische Kunst der komischen Banalisierung. „Wird schon“, sichert der Henker dem Delinquenten zu, der sich dafür artig bedankt und verspricht, seinen Peiniger nicht zu verfluchen. Die große Geschichte verwandelt sich in Pulp Fiction, raffinierten Schund, der auf die hohen Ansprüche edlen Bildungsguts lustig zurückfällt. Nichts anderes treiben Narren seit je. Sie kehren die Perspektive um, wenden das Unterste zuoberst und umgekehrt. Und so ist Tyll Ulenspiegel hier auch weniger Akteur des Geschehens als Genius des Erzählers selbst.

Mit der komischen Vergrößerung des Menschlich-Allzumenschlichen einher geht ein konsequenter Hyperrealismus: So künstlich dieser Tanz auf dem historischen Hochseil erscheinen mag, so brutal, entsetzlich und unverstellt wirken die Tableaus, die Kehlmann aus der Distanz geschichtlichen Wissens in unerträglichen Nahaufnahmen auf den Leser herabregnen lässt: Folterszenen, Verstümmelungen, Berge von Leichen und Exkrementen.

Dieser Gaukler jongliert mit Messern. Staunend verfolgt man, wie er seine Geschichten in der Luft hält. Alles nur ein Spiel, aber eines auf Leben und Tod. Und wie es bei Darbietungen Tyll Ulenspiegels eben so ist: Die einen erleben Schlimmes, andere haben großen Spaß gehabt.

Daniel Kehlmann: Tyll. Roman. Rowohlt-Verlag. 480 Seiten, 22,95 Euro.