An diesem Donnerstag beginnt die WM in London. Der Sport boomt, kämpft aber in Deutschland weiter gegen Vorurteile.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

Da steht ein Pferd auf’m Flur. Gut, genau genommen steht das Pferd nicht auf dem Flur, sondern neben dem Eingang zum Reiterstüble in Eppingen im Hof und mustert die Besucher. Die Kneipe ist unter dem Dach des Reitvereins untergebracht. Und während unten in den Stallungen also Vierbeiner gehegt werden, stehen an diesem Samstagnachmittag oben Zweibeiner vor sechs blinkenden, mannshohen Automaten und werfen Pfeile. Die Maschine goutiert das mit einem ständigen elektronischen Wiehern. An der anderen Wand hängen zwei Steeldartsscheiben, jene aus dem Sportfernsehen sehr bekannte Dartsdisziplin mit Pfeilspitzen aus Metall statt aus Plastik. Steeldarts ist analog. Die einzigen Geräusche sind das leise „Tok“ beim Treffen der Scheibe, der Jubel der Zuschauer (so es welche gibt) oder der Ausruf des „Callers“, der die Punkte ansagt.

 

Diese 74 recht gemütlichen Quadratmeter mit Sofas in den Ecken zwischen Sinsheim und Heilbronn sind eines der Zentren des Dartssports im Südwesten mit um die 70 aktiven Spielern und 14 Mannschaften. Der Wirt Oliver Scheyhing ist seit knapp vier Jahren hier. Stolz führt er durch sein Dartsimperium zu einer Bilderwand. Dort sind bekannte Szenegrößen bei ihrem Besuch im Reiterstüble zu sehen. Roland Scholten, Max Hopp, der Sport-1-Kommentator Elmar Paulke. Dann gießt Scheyhing einen Tee auf und spricht über Darts. Über die Vorurteile und den ewigen Kampf um Anerkennung. „Der Respekt ist gestiegen“, sagt er. Vor allem dank der WM in London, die an diesem Donnerstag beginnt und auch in Deutschland ein großes Publikum findet. Beste Werbung. Darts boomt. Zumindest im Fernsehen.

Grundgesetz des Sportfernsehens außer Kraft gesetzt

Der Chef des Profiverbandes PDC, Barry Hearn, nennt den Siegeszug des Darts die „größte Cinderella-Story in der Geschichte des TV-Sports“. Das Spektakel aus Sport und feucht-fröhlicher Party bricht in Großbritannien Zuschauerrekorde im Fernsehen und in Hallen. Die WM hat sich zur fünften Jahreszeit auf der Insel entwickelt.

Und in Deutschland setzt Darts das Grundgesetz des Sportfernsehens außer Kraft, das eigentlich so lautet: ein Deutscher muss ganz vorne dabei sein, sonst guckt keiner zu. Deutsche spielen beim Kampf um den WM-Titel aber keine Rolle, und dennoch sitzen bis zu einer Million Menschen vor dem Fernseher, fasziniert von der Rasanz, der Inszenierung, dem karnevalesken Drumherum. Nur Fußball hat bei Sport 1 bessere Quoten. Es schauen mehr Leute Darts als Handball oder andere weiter verbreitete Sportarten.

Der Deutsche Jyhan Artut trifft auf den Rekordweltmeister

Die deutschen Spieler werden sie wohl nur kurz sehen. Sascha Stein muss sich erst noch für das Hauptfeld qualifizieren, Jyhan Artut und Max Hopp haben das immerhin schon geschafft. Aber Artut trifft am Freitag auf den Rekordweltmeister Phil Taylor (im Bild), und Hopp spielt am 23. Dezember gegen Mervyn King, die Nummer zehn der Welt. Auf Hopp, Nummer 95 der aktuellen Geldrangliste der PDC, ruhen dennoch große Hoffnungen, der Bursche ist erst 18 Jahre und gilt als eines der größten Talente Europas. Er könnte ein Großer werden.

Was im Erfolgsfall passieren kann, sieht man in den Niederlanden. Darts kann durch die Decke gehen. Im Sog von Raymond van Barneveld, 1998, 1999, 2003, 2005 Weltmeister des Verbandes BDO und 2007 Titelträger des autonomen Profidartsverbandes PDC, ist das Land zur Supermacht geworden mit vielen Weltklassespielern – allen voran Michael van Gerwen, 25 Jahre alt. Der aktuelle Weltmeister gilt als der Spieler, der den Sport die nächsten Jahre dominieren wird. „Darts wird Jahr für Jahr größer“, sagt van Gerwen: „Es ist unglaublich beliebt. Hinter Fußball ist es bei uns der meist gesehene Sport im Fernsehen.“

Vor allem Turniere stehen im öffentlichen Fokus

Darts als Sport ist simpel zu verstehen. Die Darts-Landschaft nicht. Es gibt in Deutschland das „E-Dart“ genannte elektronische Spiel an Automaten mit Pfeilspitzen aus Plastik, das am populärsten ist und bei dem die Maschine die Rechenarbeit übernimmt. Und es gibt die klassische Variante: Steeldarts. Beides wird in Mannschaftswettbewerben von der Kreisliga bis zur Bundesliga gespielt – besonders im öffentlichen Fokus stehen aber im Steeldarts ähnlich wie im Tennis die Turniere.

Verkompliziert wird das noch durch diverse Organisationen, die sich das Königreich der Pfeile mit geschätzten 100 000 bis 150 000 Bewohnern (plus einer unbekannten Zahl an Hobbyspielern) teilen. Da wäre etwa der Deutsche Dart-Verband (DDV), der als Dachverband die organisierten Steeldartsspieler vertritt. Er hat 9862 Mitglieder und macht auch Jugendarbeit. Der DDV wurde nach einem 20 Jahre andauernden Kampf 2010 vom Deutschen Olympischen Sportbund aufgenommen. Ein Gutachten des Bundesinstituts für Sportwissenschaft hatte bereits 1993 ergeben, dass Darts als Sport anzusehen sei. Im E-Dart-Bereich wiederum gibt es den Deutschen Sportautomatenbund mit circa 80 000 Mitgliedern sowie einige andere wie den Deutschen Dart Sport Verband.

Darts sieht leicht aus, ist aber schwer

Darts spielen sieht leicht aus. Drei Pfeile auf eine Scheibe werfen, die nur 2,37 Meter von der Abwurflinie (dem Oche) weg ist. Wenn man das ein paarmal geübt hat, denken viele, dürfte es doch recht einfach sein, die richtigen Felder zu treffen. Ist es aber nicht. Darts ist schwer. Es ist feinmotorisch, erfordert eine gute Augen-Hand-Koordination, eine außergewöhnliche Konzentrationsfähigkeit und die richtige Körperspannung beim Wurf. Und: dahinter steckt ein kluger Kopf. Das sagen Dartsspieler. Darts ist zu 70 Prozent Kopfsache. Der Rest ist Talent und Übung. Profis trainieren täglich mehrere Stunden und benötigen (auch wenn es nicht jedem anzusehen ist) eine Grundfitness, um die Konzentration bei extremen Bedingungen (bis zu 50 Grad auf der Bühne, Tausende feiernde Fans im Rücken) lange halten zu können.

Das Stereotyp vom Kneipensportler mit mehr Promille im Körper als Pfeilen in der Hand, der in verrauchten Kneipen seinen Sport betreibt, begleitet die Dartsspieler. Die Kneipe ist Ursprung und Basis, was Jugendarbeit eher schwer macht. Und ja: in den Venen des Darts fließt auch heute noch Alkohol, aber: „Alles ist professioneller geworden“, sagt Scheyhing. Etwas Alkohol mag manchen Arm ruhigstellen, bei vielen lässt er aber auch das Wurfsystem kollabieren, auf Profi-Ebene sowieso. Dort ist Alkohol beim Spielen verboten, wie übrigens auch bei allen Veranstaltungen des DDV.

Im Reiterstüble in Eppingen fliegen derweil die Pfeile durch den Raum, fast wie bei einer mittelalterlichen Schlacht. Und Oliver Scheyhing erzählt von seinem Plan. Er will Schul-AGs für rechenschwache Kinder anbieten. Darts könnte ihnen helfen, da sie beim klassischen Steeldarts selbst die geworfenen Punkte addieren müssen. Und das ist keine Geschichte vom Pferd.