Die Darts-WM in London ist faszinierend und irritierend zugleich. Die krude Mischung aus Feiern und Sport passt offensichtlich perfekt zum Zeitgeist. Ein Besuch im Alexandra Palace in London.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

London - Die Lichter der Großstadt sind nur an wenigen Orten in London so schön zu sehen wie auf dieser Erhebung im Norden der Weltstadt. Am Horizont die imposante Skyline, während sich zu Füßen die Häuser der Stadt wie ein Meer aus Leuchten ausbreiten. Es ist ein fast schon erhabenes, ein beinahe majestätisches Gefühl, vor dem Ende des 19. Jahrhunderts auf einem Hügel erbauten Alexandra Palace zu stehen, während der Blick über London streift. Ein traumhafter Ort, um in den Lichtern, in Träumen und in Gedanken zu versinken. „Hast du eine Zigarette?“, fragt ein Mann im Pinguinkostüm.

 

Dann geht er voraus in diese andere Welt. Es ist der Eintritt in eine vierte Dimension – diesmal ohne schöne Aussicht.

Hinein also in das erhabene Gebäude im viktorianischen Stil, vorbei an stattlichen Sicherheitskräften, die jeden abtasten, und schon steht man mittendrin: Es gibt Bierstände, „German Bratwurst“, es tummeln sich Elfen, Supermänner und Ritter, die ihre Pfund in die WM-Währung „Token“ wechseln. Es ist Dezember, es ist Darts-WM in London. Das hier, das ist der legendäre „Ally Pally“. Eine Kathedrale des Frohsinns, ein britischer Rosenmontag. 16 Tage lang, Abend für Abend pilgern 2500 Jünger in den Alexandra Palace. „Game on“, tönt es von der Bühne. Mögen die Spiele beginnen. Die Regeln sind einfach. Erlaubt ist, was Spaß macht. Verboten? Fußballtrikots etwa, oder Obszönitäten auf die Schilder zu schreiben. Und wer zu offensichtlich sturzbetrunken ist, der fliegt raus.

„Die größte Show auf Erden“, sagt der PDC-Chef Barry Hearn

Darts ist eine Massenbewegung geworden, volle Hallen, tolle Quoten. Der Aufstieg des Darts gilt unter Marketingexperten als einmalig in der Sportgeschichte. „Die größte Show auf Erden“, sagt Barry Hearn. Der Brite hat schon bessere Tage gehabt, zumindest körperlich. Die Achillessehne schmerzt, weswegen er in diesen Londoner Darts-Tagen einen dicken Schuh tragen muss. Sonst geht es ihm gut, sehr gut sogar. Barry Hearn ist ein älterer, groß gewachsener Mann, 64 Jahre alt. Er ist Chef der Darts-Verbandes PDC, Hearn ist überhaupt einer der mächtigsten Männer in der Welt des Sports. Er hat sein Imperium in einer Nische begründet, mit Sportarten wie Snooker, Angeln oder Bowling, die er vermarktet. Darts hat er vor Jahren übernommen – und aus dem Kneipensport einen Multi-Millionen-Pfund-Zirkus gemacht.

Seine Agentur Matchroom Sports ist eine der größten der Szene. Der Ex-Promoter von britischen Boxgrößen wie Lennox Lewis oder Chris Eubank sagt: „Wir garantieren eine tolle, bezahlbare Nacht in netter Umgebung, eine Party mit Sport.“ Das ist sein Dogma. Gib dem Volk, was das Volk will. Und das Volk will Spaß. Kompliziert ist es da draußen. Kommt hinein in den Circus Maximus des 21. Jahrhunderts. Vergesst alle Sorgen. Feiert euch. Darts als Opium.

Zeitgeist ist ein schönes deutsches Wort. So schön, dass die Briten keine geeignete Übersetzung gefunden haben und den deutschen Begriff verwenden. Zeitgeist. Ist das vielleicht der Zeitgeist, der sich hier amüsiert? Sieht so gar die Zukunft des Sports im 21. Jahrhundert aus, wie Barry Hearn glaubt? Sport, Party, Bier, Spaß. Es heißt oft, dass die X-Games, das Event der Superlative für Trendsportarten wie Skateboard, das neue Olympia sind. Wobei das alte Olympia noch gut funktioniert. Darts wird weder bei den X-Games noch Olympia je eine Rolle spielen. Es ist nicht trendig oder ernst, aber es wächst und wächst.

Mit Darts lassen sich heute Millionen Pfund verdienen

Hinter der Bühne warten gerade zwei der Walk-on-Girls auf ihren Einsatz. Hübsche Frauen, im engen Kleid mit einladendem Dekolleté, kurzum eine Optik, die anderenorts für eine Aufschreidebatte taugt. Sex sells: Teil des Geschäfts, ein Mosaik des Ganzen. Darts ist perfekt choreografiert und den Bedürfnissen des Entertainmentzeitalters angepasst. Es ist schnell, abwechslungsreich, stimmungsvoll, nachvollziehbar. Perfekt inszeniert vom Fernsehen. Den Spielern, oftmals skurrile Typen, wurden Kampfnamen verpasst. Sie laufen flankiert von den Walk-on-Girls zu ihrer Lieblingsmusik durchs Spalier der Fans auf die Bühne, werden gefeiert wie Superstars.

Genau das war der Plan, als die PDC 1993 gegründet wurde. Damals spalteten sich einige der besten Spieler um Phil Taylor vom traditionsreichen Verband BDO ab. Sie wollten mehr Geld verdienen, sich besser vermarkten, sie wollten raus aus den kleinen, verrauchten Kneipen, raus in die große, weite Welt. Dort, wo das Geld ist.

Heute verdienen sie Hunderttausende im Jahr, der bei der WM bereits ausgeschiedene 16-fache Weltmeister Phil Taylor ist mehrfacher Millionär, allein der WM-Sieger erhält 250 000 Pfund, der Caller Russ Bray, der die Punkte („Onehundredandeighty“) ansagt, fährt Jaguar.

Darts ist eigentlich ein klassischer Zeitvertreib der britischen Working Class. Es ist ihr Spiel. Und der Siegeszug des Darts mit Kulissen von mehr als 10 000 Fans ist ihr modernes Märchen, eine Cinderella-Story. Die Arbeiterklasse ist Mainstream geworden, sie ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen, zumindest im Sport. Selbst Prinz Harry war schon im „Ally Pally“. Außenseiter, bierbäuchige Typen mit Tätowierungen, schräge Figuren werden auf der Bühne zu Volkstribunen.

Es wäre gelogen zu behaupten, dass die Zeitungen voll wären von der WM. Medien wie die „Times“ oder der „Guardian“ halten sich zurück. Es gibt Wichtigeres, zum Beispiel die Testspielserie der Cricket-Nationalmannschaft in Australien, über die täglich seitenweise berichtet wird und zu der jede Gazette, die etwas auf sich hält, mehrere Journalisten entsandt hat. Und die, das nur nebenbei, ganz offensichtlich verheerend läuft aus britischer Sicht. Viele rümpfen beim Darts noch immer die Nase, die Sender nicht. Ein neuer TV-Vertrag mit Sky Sports über fünf Jahre wurde unterzeichnet, kolportiert wird ein Preis von mehreren Millionen Pfund für die Rechte.

Elmar Paulke – die deutsche Stimme des Darts

„Es sind die Kontraste, die mitentscheidend für den Erfolg sind. Das alte Gemäuer und die moderne Party. Millimeterarbeit und laute Gesänge. Die Mischung aus Sport, kantigen Typen und Party funktioniert“, sagt Elmar Paulke. Er ist die Stimme des Darts in Deutschland. Seit zehn Jahren kommentiert Paulke für Sport 1 Darts. An diesem Tag muss er nicht ans Mikrofon, sondern hat frei und sitzt gerade im Pressezelt hinter der Bühne. Elmar Paulke ist eigentlich Tennisexperte, zumindest war er das, bis sich der Sender die Rechte an der WM sicherte. Paulke wurde gefragt, er wollte, und er bekam einen Darts-Crashkurs. Heute ist er einer der Insider schlechthin.

Am Anfang wurde Darts belächelt, öffentlich wie intern. Heute ist es ein Blockbuster für den Sender mit außergewöhnlich guten Quoten, speziell jetzt, wo die heiße Phase der WM beginnt, die dann mit dem Finale traditionell am 1. Januar endet. Die Quoten erreichen in Deutschland in der Spitze bis zu eine Million Zuschauer, ein herausragender Wert für Sport 1. In der angepeilten Zielgruppe bescherte die vergangene WM dem Sender Marktanteile mit einem Bestwert von 4,4 Prozent. Der Schnitt liegt übers Jahr bei 0,8 Prozent und das alles ohne deutschen Helden.

Deutsche? Ja, waren auch dabei. Drei Aktive, alle sind sie draußen. Noch nie konnte ein Starter aus Deutschland die erste Runde überstehen. Die Bundesrepublik ist ein Entwicklungsland, aber ein aufstrebendes. Es gibt immer mehr Turniere. Die Quoten steigen, das Interesse auch. Jahr für Jahr gibt es neue Besucherrekorde bei Turnieren in Deutschland. „Vielleicht sitzen die Weltmeister von morgen gerade vorm Fernseher“, sagt Paulke. Davon träumt er. Davon träumt Sport 1. Davon träumt die deutsche Darts-Gemeinde: von einem Deutschen, der um den WM-Sieg mitspielen kann wie beim Becker-Boom. Elmar Paulke war 1999 als Journalist in Wimbledon beim Tennisturnier. Es war das Jahr, als Raymond van Barneveld zum zweiten Mal Weltmeister wurde. „Die niederländischen Kollegen erzählten, dass sie bis zu sieben Millionen Zuschauer beim Darts gehabt hätten – ich dachte, die verwechseln da irgendwas mit Millionen und meinen 700 000“, sagt Paulke. Sie verwechselten nichts. Van Barneveld löste einen Boom aus, neben Briten dominieren Niederländer heute die Darts-Welt, das letzte WM-Finale mit ihrem Star Michael van Gerwen schauten 1,8 Millionen Niederländer.

Höchste Konzentration in der Hitze auf der Bühne

Es ist heiß auf der Bühne. Die Scheinwerfer brennen auf die Spieler nieder, 40 bis 50 Grad sind es vorne am Oche, der Abwurfstelle, 2,37 Meter von der Scheibe entfernt. Vor ihnen, auf 1,73 Meter Höhe, das Zentrum der Scheibe. Darts sieht leicht aus, vor allem bei der WM, wo die Spieler den Höchstwert von 180 Punkten mit drei Pfeilen oft werfen. Wer sich selbst versucht hat, weiß um die Komplexität, die Triple-20, dieses acht Millimeter große Feld im inneren Ring des 20er-Segments, zu treffen.

Mehrere Stunden kann so eine Partie in der Endphase der WM dauern, stundenlang höchste Konzentration in der Hitze der Nacht, hinter sich das Partyvolk aus 2500 Menschen, die bespaßt werden wollen oder die sich selbst bespaßen, wenn sie vom Spiel gelangweilt sind – Präzisionsarbeit in karnevalesker Atmosphäre. Das ist – ja was, Sport? „Diesen Fokus zu halten – also wenn das kein Sport ist, weiß ich nicht, was Sport sein soll“, sagt der deutsche WM-Starter Tomas „Shorty“ Seyler, der in der ersten Runde der WM ausschied und als Experte für Sport 1 kommentiert.

Es ist nach Mitternacht. Die Schlacht ist geschlagen. Zurück bleiben Schilder und klebrige Tische. Wie es war? „Fucking awesome“, sagt einer, als die Security das Partyvolk aus der Halle schiebt. Keine Metaebene. Einfach geil. Dann macht er sich mit all den anderen aus der Gute-Laune-Fraktion auf zum Bus W3, der ihn den Hügel runter zur U-Bahnstation Wood Green bringt. Raus aus dem Winterwunderland „Ally Pally“, zurück in die Realität. Es regnet.