Am Montag wird im Rems-Murr-Kreis ein neuer Landrat gewählt. Kaum ein öffentliches Amt sichert seinem Inhaber so viel Gestaltungsspielraum. Doch früher war es noch besser bestellt um die Herrlichkeit der „Kreisfürsten“.

Regio Desk: Achim Wörner (wö)

Waiblingen - Dunkler Anzug, weißes Hemd, moderne Krawatte – das Trio, das sich an diesem Abend im stimmungsvoll illuminierten Gewölbekeller des Korber Weinguts Zimmerle bei einem guten Tropfen ein Rededuell liefern soll, macht einen hochseriösen Eindruck. In den Ansichten – von der Bildung bis hin zur Asylfrage – gibt es viele Parallelen, der Ton ist zurückhaltend, kaum politische Attacke, kaum Konfrontation, dafür Werbung in eigener Sache.

 

Er sei „Jurist, aber kein Paragrafenreiter“, sagt Richard Sigel, 37 Jahre alt und Dezernent im Böblinger Landratsamt. Er sei „pragmatisch und zupackend“, sagt Dirk Braune, 50 Jahre alt, der Geschäftsführer der Rems-Murr-Kreisbau-Gruppe. Er sei „ein Gestalter mit viel kommunaler Erfahrung“, sagt Wolfgang Faißt, 53 Jahre alt und Bürgermeister von Renningen.

Die sachliche Debatte auf Einladung der Stuttgarter Zeitung täuscht darüber hinweg, dass die Männer Konkurrenten sind: Alle drei wollen am Montag bei der Wahl im Kreistag den im Sommer scheidenden Rems-Murr-Landrat Johannes Fuchs beerben – und damit eines der mächtigsten Ämter auf kommunaler Ebene in Baden-Württemberg besetzen. „Herrgott, König und Feudalherr?“ überschreibt der Politologe Georg Fuchs das einleitende Kapitel seiner wegweisenden Dissertation „Der Landrat“ und illustriert die Frage mit schönen Bonmots. So haben die Kreisräte dem Ravensburger Landrat Kurt Widmaier ein biblisches Zitat aus dem Buch Samuel gewidmet: „Seht, hier ist euer König, den ihr verlangt und den ihr euch erwählt habt.“ Und der frühere Landrat von Biberach, Wilfried Steuer, war als das „Herrgöttle von Biberach“ weit über die Grenzen seines Gäus hinaus bekannt.

Grafik: 35 Landräte gibt es in Baden-Württemberg, Illustration: wö (für eine größere Ansicht klicken Sie auf die Grafik)

Um die „Kreisfürsten und Staatsdiener“, wie sie der frühere Regierungspräsident Udo Andriof einmal bezeichnet hat, ranken sich viele Geschichten. Legendär ist beispielsweise Johannes Fuchs’ Vorgänger Horst Lässing, dem Festredner schon anlässlich seines fünfzigsten Geburtstages attestiert haben, er sei ein „donderschlechtiger Landrat“. Der weinselige Kreishäuptling, der 28 Jahre lang die Geschicke an Rems und   Murr lenkte, soll öfter wie J. R. Ewing durch seine Residenz gefegt sein, Mitarbeiter zum Rapport befohlen und selbst höhere Würdenträger der Verwaltung mit Titeln belegt haben, die in keinem Dienstgradverzeichnis stehen. Mit dem damaligen Regierungspräsidenten beharkte er sich so intensiv, dass die beiden Streithähne prompt vor den Innenminister zitiert wurden. „Früher“, sagt der heute 78-Jährige, „bin ich gern gegen den Wind gesegelt.“

„Gläubig aufwärts, mutig vorwärts, dankbar rückwärts“

Barocke Lebensfreude gepaart mit reichlich konservativen Ansichten und bisweilen selbstgefälligem Gehabe wird besonders einzelnen Landräten in den katholisch geprägten oberschwäbischen Gefilden nachgesagt. Der bis 1991 tätige spätere Energiemanager Steuer etwa ist einen vielsagenden Spruch nie mehr losgeworden: „Fanget die Kerle und gucket, was die treibet“, lautete seine Parole, als sich ausgerechnet am Bussen, dem heiligen Berg Oberschwabens, eine Kommune niederließ, deren Mitglieder zwar keine Vorhänge hatten, sich aber munter der Fleischeslust hingaben, wie die „Badische Zeitung“ schrieb. Das hätte der fromme Christdemokrat vielleicht noch hingenommen, hätte sich nicht der Hund der Lebensgemeinschaft am Weihwasserkessel des Friedhofs gelabt. Später hat Steuer in seinem Heimatdorf Emerfeld ein Kreuz aufstellen lassen mit seinem Lebensmotto: „Gläubig aufwärts, mutig vorwärts, dankbar rückwärts“.

35 Landräte gibt es in Baden-Württemberg, seit die Landkreise 1973 neu geschnitten und in der Zahl reduziert wurden. Nur drei Frauen sind darunter. Mehr als 70 Prozent verfügen – vor allem im ländlichen Raum – über ein CDU-Parteibuch. Und ein patriarchales Herrschaftsverständnis wird den einflussreichen Chefs der Kreishäuser immer noch zugeschrieben. Die Wirklichkeit aber ist inzwischen differenzierter.

Johannes Fuchs sitzt in einem Besprechungsraum des Landratsamts Rems-Murr, einem Zweckbau aus den 1970er Jahren. Seine Tage als erster Mann im Kreis sind gezählt. Er hat sich entschieden, mit seinem Geburtstag im August abzutreten, wiewohl seine achtjährige zweite Amtsperiode bis 2018 gedauert hätte. Im Alter von 65 Jahren soll ein neuer Lebensabschnitt beginnen. Fast vier Dekaden in kommunalen Leitungspositionen hat er dann hinter sich. Wenn Fuchs, ein nachdenklicher, reflektierter Vertreter seiner Spezies, Bilanz zieht, dann wechseln Licht und Schatten ab. Die gestalterischen Möglichkeiten als Landrat, die Freiheit, in wichtigen Bereichen des öffentlichen Lebens Akzente zu setzen, hat er geschätzt, ja, genossen. Er hat aber immer wieder und zunehmend auch die Bürden gespürt. Der Familie seien große Opfer abverlangt worden, sagt er. Im Durchschnitt mehr als 70 Wochenstunden sind Landräte dienstlich unterwegs, eine Sieben-Tage-Woche ist die Regel. Das kostet Kraft – auch weil die Spitzenbeamten „zunehmend die Rolle des Prellbocks spielen“, wie Fuchs befindet.

Die schlaflosen Nächte des Johannes Fuchs

Hautnah hat er dies erlebt bei den Debatten über die Kliniklandschaft im Rems-Murr-Kreis. Die Schließung von Dependancen wie in Backnang hat die Wogen hochschlagen lassen – und dem Verantwortlichen „manch schlaflose Nacht bereitet“. 2008 beschloss der Kreistag mit dünnster Mehrheit einen Neubau in Winnenden. Vor allem die „oft unsachliche Kritik unter der Gürtellinie“ hat Fuchs zugesetzt. Seine Amtskollegen Roland Bernhard in Böblingen und Rainer Haas in Ludwigsburg, die aktuell im Blick auf die Zukunft ihrer Hospitäler vor ähnlichen Herausforderungen stehen, können ein Lied davon singen. Erst dieser Tage musste sich Haas den Protest von Demonstranten gefallen lassen, die sich gegen das Schleifen des Vaihinger Hauses wehren – wie anno dazumal an anderer Stelle gegen den Bau von Müllverbrennungsanlagen. Solche Bürgernähe sind Landräte nicht gewohnt.

Dabei ist das Gesundheitswesen zwar von besonderer Strahlkraft – aber nur ein Teil eines riesigen Portfolios, das Landräte zu verantworten haben. Sie sind in einer Doppelfunktion erste Beamte des Kreises und Leiter der unteren staatlichen Verwaltungsbehörde. Kraft Amtes sitzen sie dem Kreistag und seinen Ausschüssen vor und sind gesetzliche Vertreter des Kreises – auch in vielen Aufsichtsgremien. Um die Fülle der Pflichten in einem Kreishaus zu fassen, braucht es schon eine sechzehnseitige Broschüre, wie sie in Ludwigsburg aufgelegt wurde: Die Liste reicht von der Ausbildungsförderung bis zum Wohngeld, vom öffentlichen Nahverkehr bis zur Schulsozialarbeit. Die Kreise regeln – je nach Größe – das Leben von teilweise mehr als 500 000 Bürgern. Sie halten berufliche Schulen vor und Büchereien, müssen sich um die Straßen, den Forst, die Lebensmittelüberwachung kümmern – und bieten sogar Obstbauberatung an. Allein im Kern beschäftigen die Landratsämter 1500 Mitarbeiter, mal etwas mehr, mal weniger. Konzernvolumen inklusive der Abfallwirtschaft und der Krankenhäuser: in manchen Fällen klar über der Milliardengrenze.

Im Blickpunkt einer breiten Öffentlichkeit stehen die Landräte im Moment nicht zuletzt wegen der Unterbringung von Asylbewerbern. Im vergangenen Herbst hat sich wegen der hohen Zahl an Flüchtlingen der Esslinger Kreisobere Heinz Eininger mit der Landesregierung angelegt – und in einem Brandbrief an die Integrationsministerin Bilgay Öney einen Aufnahmestopp angedroht. „Unser Ziel muss eine menschenwürdige Unterbringung sein“, so sein Kredo. Fakt sei aber, „dass wir in einem dicht besiedelten Kreis weder die Flächen noch die Gebäude haben“. Die Verweigerungshaltung löste bundesweit ein heftiges Medienecho aus und trug Eininger einen Rüffel des Ministerpräsidenten Kretschmann ein. Verständnis erntete er hingegen bei seinen Standeskollegen, die ihre Reihen wieder einmal geschlossen hielten.

Die Direktwahl ist auf die lange Bank verschoben

Dies ist ein Beleg dafür, mit welchem Selbstbewusstsein die Landräte ihre Interessen vertreten – obwohl sie in Baden-Württemberg, anders als in anderen Ländern, nicht vom Volk, sondern von den Kreistagen bestimmt werden. Die grün-rote Landesregierung hat zwar im Koalitionsprogramm eine Änderung des Verfahrens vereinbart, realisiert wird der Plan aber nicht mehr vor der Landtagswahl 2016. Die Umsetzung sei wegen vorrangiger Gesetzesvorhaben zurückgestellt, sagt der Vizeregierungssprecher Arne Braun. Auch, weil mit der Direktwahl ungeklärte rechtliche und organisatorische Fragen verbunden seien.

Doch auch so ist das Amt von großer Unabhängigkeit geprägt, wie der Wissenschaftler Georg Fuchs in seiner Studie über die Landräte fein säuberlich herausgearbeitet hat. 85 Prozent der Mandatsträger waren vor ihrer ersten Wahl als Beamte oder Bürgermeister tätig und haben deshalb eine ausgewiesene Expertise als Verwaltungsfachleute. Da die Kreistage als Vollversammlung allenfalls vier- bis sechsmal im Jahr zusammenkommen und auch über keinen Apparat verfügen, nutzen die Landräte gerne ihren Kompetenzvorsprung, um Entscheidungen in ihrem Sinne zu befördern. Einer, der diesen Ansatz hegt und pflegt, ist der Ludwigsburger Landrat Haas. „Angesichts des vielfältigen Beziehungsgeflechts eines Kreises funktioniert ein feudaler Regierungsstil nicht“, sagt er zwar, bezieht aber selbst immer klar Position und versucht, eine Mehrheit der Kreisräte hinter sich zu bringen – so wie bei der Schrumpfkur für das defizitäre Krankenhaus Vaihingen. Proteste vor Ort kann der 58-Jährige mit der Gelassenheit des mittlerweile dienstältesten Landrats im Land ertragen. „Man darf eben nicht mimosenhaft sein“, sagt Haas, der sich zuvörderst der Sache und seinem Kreis verpflichtet fühlt – und sich im Kampf um Zuständigkeiten deshalb auch gerne speziell mit dem Verband Region Stuttgart anlegt.

Der moderne Landrat ist ein Manager

„Das mir von Gott anvertraute Amt ist gar köstlich und schön. Unabhängig nach oben gegen die Regierung sowie gegen die Kreisinsassen nach unten, ruht es allein auf meiner Verantwortung“ – so hat anno 1844 ein Vogt von seinem Beruf geschwärmt. Bis heute, betont der Forscher Fuchs, sei das Amt des Landrats einzigartig: in Stellung, Amtsführung und im Amtsverständnis. Der uralte Kern der Rolle, eine Ausgleichsfunktion an der Schnittstelle zwischen Herrschaft und Bürgern, sei noch immer prägend. Aber königliche, göttliche Attitüden? Landräte moderner Prägung sind Manager mittelständischer Unternehmen, die ihren Kreis im Wettbewerb mit anderen Standorten voranbringen müssen – im Idealfall als Teamplayer. „Ein Landrat“, sagt selbst Haas, „braucht kommunikative Fähigkeiten und ist auf eine gute Mannschaft angewiesen.“

Dieses Selbstverständnis, das hat die Debatte im Korber Weinkeller gezeigt, legen auch die drei Kandidaten für den alsbald vakanten Stuhl des Landrats im Rems-Murr-Kreis an den Tag. Am Montag haben die 88  Kreisräte die Qual der Wahl. Alle Bewerber erfüllen das Anforderungsprofil, jeder bringt eigene Stärken und Schwächen mit. Der Amtsinhaber Johannes Fuchs wird den Urnengang gelassen verfolgen. Auf der Ostalb hat er vor Jahren ein landwirtschaftliches Gehöft erstanden, das nun auf Vordermann gebracht werden will. „Da“, sagt er, „kann ich so richtig entspannen.“