Einfach vergessen, das geht nicht. Drei Jahre sind vergangen seit dem Amoklauf auf der Insel Utøya. Zwei, die dem Mörder entkommen sind, reden über die Zeit danach. Weitermachen, sagen sie, das hilft den Schmerz zu lindern.

Oslo - Fredric Bjørdal hat drei Versionen derselben Geschichte. Eine erzählt er öffentlich, eine seiner Familie. Die dritte behält er für sich. Er möchte sie niemandem zumuten, sagt er. Sie ist zu schrecklich.

 

Die Version für die Öffentlichkeit hat er schnell erzählt. Sie beginnt mit Hühnersuppe. Bjørdal kocht gerade das Abendessen für die 564 Menschen auf der Insel Utøya, als er Schüsse hört. Er springt aus dem Fenster im zweiten Stock und flüchtet zum Wasser. Zum Schwimmen ist es ihm zu kalt. Also rennt Bjørdal „in Panik und Terror“ über die Insel, weg von den Schüssen. Manchmal hält er an, verbindet Wunden anderer mit Fetzen seiner Küchenschürze. Einmal wartet er zu lange, er hört Kugeln neben sich einschlagen. Er hat Glück. 69 andere sterben. Es ist der 22. Juli 2011.

An diesem Tag zündete Anders Breivik eine Bombe im Osloer Regierungsviertel und griff danach das Sommerlager der AUF, der Jungend von Norwegens Arbeiterpartei, an. Insgesamt tötete er 77 Menschen.

Eine scheue Begrüßung auf Deutsch

Knapp drei Jahre später wartet Fredric Bjørdal auf der anderen Seite der Sicherheitsschleuse im Parlament in Oslo. Er ist jetzt Abgeordneter. Überpünktlich steht er am Empfang, in grauem Anzug, dunkelblauer Krawatte, groß, blond, sportlich, lächelnd. 24 Jahre jung. Eine scheue Begrüßung auf Deutsch. Das hat er in der Schule gelernt, er nutzt jede Gelegenheit zu üben. „Von hier aus haben wir eine zehnminütige Reise bis zu meinem Büro“, entschuldigt er sich. Manchmal verläuft er sich selbst noch in den Gängen.

Sein Büro sieht aus, als sei er noch nie hier gewesen. Die Wände sind kahl, der Schreibtisch leer. Bjørdal faltet sich umständlich auf dem schmalen Sofa zusammen. Er kommt nur her, wenn er muss. Seine Heimat ist Ørsta, eine Flugstunde entfernt an der Westküste, wo Berge und Meer sich treffen. Bjørdal lebt dort mit seiner Freundin, nur fünf Minuten von den Eltern entfernt. In Ørsta hat er Ruhe, kann fischen, bergsteigen und tauchen.

Als die Arbeiterpartei ihm im Frühjahr 2012 Listenplatz zwei für die nationalen Wahlen anbot, lehnte er ab. Er wollte Arzt werden, nicht Politiker. Dann besann er sich. Auf Utøya hatte die Arbeiterpartei viele Nachwuchspolitiker verloren, potentielle Kandidaten fürs Parlament. „Weil sie es nicht mehr können, muss ich es tun, weitermachen mit der Politik“, sagt Bjørdal. Es sei die schwerste Entscheidung seines Lebens gewesen.

Keiner der Überlebenden ist ganz frei von der Insel

Wahrscheinlich ist keiner der Überlebenden ganz frei von der Insel. 325 von ihnen hat das Norwegische Zentrum für Gewalt und Traumatischen Stress fünf Monate nach der Tat befragt. Zwei Drittel von ihnen haben gesehen, wie jemand getötet oder verletzt wurde. 80 Prozent hatten Todesangst. Etwa die Hälfte der Befragten litt unter Posttraumatischer Belastungsstörung. In der zweiten Fragerunde neun Monate später war es noch jeder Fünfte. Manche haben es nicht zurück in den Alltag geschafft. Die anderen ringen darum, ein normales Leben zu führen. Sie konzentrieren sich auf ihr Studium, den Job, auf die Karriere. Außer Bjørdal sind noch zwei weitere Utøya-Überlebende im Parlament. Wie überlebt man es, Überlebender zu sein?

Ingvild Leren Stensrud sitzt in einem Café an der Osloer Uni, Block und Bücher vor sich. Die 19-Jährige studiert im zweiten Semester Politikwissenschaften und büffelt Methodik der Sozialwissenschaften, viel Statistik, viel rechnen, sie stöhnt. Ihre kurzen Haare hängen wirr in ihr rotes Puppengesicht, rote Wangen, sehr roter Lippenstift. Es ist voll in dem Café, die Espressomaschinen brummen. Ingvild sagt, sie habe Frieden darin gefunden, weiterzumachen, ihre Pläne zu verwirklichen. Studium in Oslo. Auslandssemester in Australien. Mit 17 ist sie weg von zu Hause im südnorwegischen Kragerø. Sie wollte auf eine bessere Schule, der Kleinstadt entkommen. Das war ein halbes Jahr nach Utøya.

Die Fotos im Schlafanzug sind ihr heute peinlich

Utøya – davon hat sie lange nicht mehr erzählt. Anfangs hat es ihr geholfen, darüber zu sprechen. Schon vom Krankenhausbett aus hat sie Interviews gegeben. Die Fotos, die die Journalisten von ihr gemacht haben, findet man immer noch im Internet. Sie sind ihr heute peinlich, weil sie sie im Schlafanzug zeigen. Darüber hat sie damals nicht nachgedacht. Im Frühjahr 2012 kam der Prozess gegen Breivik. Stensrud hat vor Gericht ausgesagt und noch mehr Interviews gegeben. Da habe sie gemerkt, dass es reicht, dass sie das Thema abhaken möchte. Nur vergessen, das geht nicht.

Sie wird sich immer daran erinnern, dass sie auf der Flucht in die Cafeteria ihre Schuhe vor der Tür ausgezogen hat, wie es sich gehört. Eigentlich war sie auf dem Weg zum Anlegesteg, als andere ihr entgegen kommen, panisch den Hügel hinauf laufen. Sie dreht um, flüchtet ins Haus. „Ich habe gedacht: Nein, das passiert nicht wirklich“, sagt sie. „Dann sagt dein Kopf: Doch, es passiert, und lässt dich die richtigen Dinge tun. Ich war im Überlebensmodus.“

Stensrud stellt sich tot unter all den Körpern

Drinnen ist es überfüllt mit Menschen, draußen fallen Jugendliche getroffen zu Boden. Stensrud sieht sie durchs Fenster, hört die Schüsse. Deren Klang änderte sich, als Breivik ins Haus kommt. Reflexartig legt sie sich flach hin. Andere stürzen auf sie, begraben sie unter sich. Ihr Oberschenkel wird getroffen, es schmerzt kaum. Sie sieht, wie sich ihre graue Jogginghose rot färbt. Dann ist es still. Ein neues Geräusch: Der Schütze lädt nach. Er schießt gezielter. Stensrud stellt sich tot unter all den Körpern. Der zweite Treffer streift ihren Arm.

Als der Täter das Gebäude verlässt, leben von den zehn Menschen in dem Raum noch drei, außer Stensrud ein Junge, der in den Fuß geschossen wurde und einer, der im Gesicht getroffen ist und stark blutete. Sie ruft ihre Eltern an. Weil ihr Handy keine Batterie mehr hat nimmt sie eines aus einer fremden Tasche. Sie erinnert sich nicht mehr genau an das Gespräch, es ist kurz und die Eltern verstehen sie nicht. Nach einer Weile beginnen überall im Haus die Telefone zu klingeln. Doch niemand antwortet. Auch das fremde Handy, das Stensrud benutzt hat, klingelt. Sie geht nicht dran. Was hätte sie sagen sollen. Die Nachricht hatte die Außenwelt erreicht.

Wenn die Eindrücke zurückkommen, versucht Stensrud nicht erst, sie zu verdrängen. Sie setzt sich dann hin und lässt sie über sich ergehen. „Ich sage mir: Die Bilder müssen da sein, und dass sie eines Tages verblassen werden.“ Ihr größtes Problem sind große Gruppen, laute und aggressive Menschen, Betrunkene. Anfangs fiel es ihr schwer, nicht in ihrem eigenen Bett zu schlafen. Doch vergangenes Jahr war sie wieder im Ferienlager und es war „wirklich okay“.

Vier Tage später tritt Bjørdal seinen neuen Job an

Weitermachen. Das ist auch das Mantra von Nachwuchspolitiker Bjørdals. Breivik mordete an einem Freitag. Am Dienstag, nur vier Tage später, tritt der damals 21-Jährige wie geplant seinen neuen Job an. Er wird Kampagnenberater für die Arbeiterpartei im Regierungsbezirk Møre og Romsdal. Parallel studierte er Verwaltungswesen und kandidierte für den Stadtrat in Ørsta. Von dort sind sie nur kurz zuvor zu zweit nach Utøya aufgebrochen, er und eine Parteifreundin. Bjørdal ist allein zurückgekehrt. Er gewinnt die Wahl, wird später Leiter seiner Parteigruppe im Stadtrat. Im selben Jahr beginnt er in einer Notfalleinrichtung zu arbeiten. Er betreut Jugendliche, die nicht in ihren Familien bleiben konnten, die missbraucht wurden, die verhaltensauffällig sind. Ein straffes Programm. „Normalität“, sagt er dazu. Oder ist es Verdrängung?

Grübeln, das ist die schlechteste Strategie

„Wenn man immer darüber nachdenkt, was passiert ist, was man getan hat, und was man hätte anders machen können, ob man mehr hätte helfen können, ob dann er oder sie nicht erschossen worden wären, darüber zu grübeln, das ist die schlechteste Strategie. Das zerstört einen“, sagt Bjørdal.

Doch das mit der Normalität ist nicht so einfach. Zu den psychologischen Problemen, Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, Schuldgefühlen, unter denen viele Überlebende leiden, kommt das Mitleid der anderen. Manche Überlebenden erzählen nicht, was ihnen zugestoßen ist, wenn sie neue Leute kennenlernen. Die glauben sonst nämlich nicht, dass ihr Gegenüber ein normales Leben führen und glücklich sein kann. Als Utøya-Überlebende wird man anders angesehen.

Für Bjørdal und die anderen, die eine politische Karriere machen, ist es noch schwieriger. Sie kämpfen gegen den stillen Vorwurf, so etwas wie einen Mitleidsbonus zu kassieren. „Man wird beschuldigt, dass man sich einen Namen machen möchte mit dem, was passiert ist, eine Karriere aufbauen auf den Gräbern der Verstorbenen“, sagt Bjørdal. Deswegen ist ihm eines besonders wichtig: Dass der nicht wegen Utøya im Parlament sitzt, sondern trotzdem.

Überall sucht er als erstes die Notausgänge

Was er damit meint ist, dass er aus dem Fenster seines Büros schaut und sich fragt, ob es Panzerglas ist. Er geht ins Kino, ins Theater, in die Bibliothek, und sucht als erstes die Notausgänge. Das Szenario, das er dann im Kopf hat, ist immer dasselbe: Ein Irrer, der um sich schießt. Trotzdem sei er froh, dass er ohne Bodyguard auf die Straße gehen kann. Dass sich diejenigen, die nach den Morden mehr Überwachung gefordert haben, nicht durchsetzen konnten. So spricht der Politiker. Für den Überlebenden ist es ein zwiespältiges Gefühl: „Natürlich macht es Angst, dass man sogar in einem friedlichen, demokratischen Land für seine Überzeugung getötet werden kann.“ Für Bjørdal war der 22. Juli ein politisches Attentat.

Für die Mehrheit der Norweger war das nicht so eindeutig. Sie diskutierten nach der Tat mehr über Sicherheitsfragen als über den politischen Hintergrund des Täters. Warum war der Hubschrauber der Polizei nicht einsatzbereit? Warum stoppte sie Breivik nicht schon auf dem Weg zur Insel? Warum trieben die Einsatzkräfte hilflos in einem Gummiboot auf dem Wasser, während auf Utøya Menschen starben? Die Versäumnisse der Behörden entpuppten sich als fatal. Am Ende stand die damalige Regierung, die Arbeiterpartei selbst, in der Kritik. Sie wurden vom Anschlagsziel zur Verantwortlichen.

Eine Attacke auf die Arbeiterpartei – oder auf die Nation?

„Es gab eine Debatte, zu wem die Tragödie des 22. Juli gehört. Ob es eine Attacke auf die Arbeiterpartei war oder auf die ganze Nation“, sagt Erika Fatland. Sie ist Sozialanthropologin und hat Hinterbliebene und Überlebende im ersten Jahr nach dem 22. Juli für ein Buch begleitet. Die Opposition habe damals schnell reklamiert, dass die Arbeiterpartei diese Tragödie nicht für sich nutzen könne. Stärkste Oppositionspartei war zu der Zeit die rechtspopulistische Fortschrittspartei. Ihr konnte an politischer Aufarbeitung kaum gelegen sein. Breivik war früher einmal Mitglied der Partei gewesen. Es wäre zwar nicht fair, sie mit Utøya in Verbindung zu bringen, sagt auch Sozialdemokrat Bjørdal. Doch dass die Fortschrittspartei danach an die Regierung kam, das hat ihn um den Schlaf gebracht.

Der Konflikt setzt sich fort im Streit um das Denkmal, das die Regierung plant: ein Schnitt quer durch eine Halbinsel am Ufer des Tyrifjord-See, gegenüber von Utøya. Die Landspitze soll völlig abgetrennt werden, unerreichbar für die, die am Ufer stehen. Ein krasser Entwurf, der den Verlust spürbar macht und wenig Raum für Hoffnung lässt. Für einige Eltern ist es ein bloßes Kunstwerk, das nichts mit dem Schicksal ihrer Kinder zu tun hat.

Für viele Anwohner ist es ein unerträglicher Anblick, von dem sie nie Pause machen können. Auch sie betrachten sich als Opfer. Der 22. Juli hat ihre Heimat in einen Kriegsschauplatz verwandelt. Manche haben ihr Leben riskiert, als sie noch vor der Polizei mit Booten zur Insel gefahren sind, um flüchtende Jugendliche aus dem Wasser zu ziehen. Die Regierung hat die Pläne für das Denkmal nun erst mal um ein Jahr verschoben. Doch bis zum Jahrestag 2016 soll es fertig sein.