In den achtziger Jahren waren sie das Traumpaar des deutschen Eiskunstlaufs. Andreas Nischwitz ist heute Zahnarzt, Tina Riegel Mutter von drei Kindern. StZ-Redakteur Frank Buchmeier hat sie getroffen.

Reportage: Frank Buchmeier (buc)

Stuttgart - Als letzte Trophäe bekommt Tina Riegel im Herbst 1982 von der „Bravo“ den Silbernen Otto überreicht. Zu diesem Zeitpunkt ist sie 17 und bereits keine Eisprinzessin mehr. „Tina ließ es sich nicht mehr gefallen, dass sie von ihrem Trainer angeschrien wurde und auch mal eine gelangt bekam“, berichtet die „Bravo“.

 

Januar 2013: Christina Jöst, geborene Riegel, erscheint wie verabredet auf der Waldau. Sie ist noch immer zierlich, hat lange, braune Haare und schaut mit Rehaugen in die Welt. Auf der Eisfläche übt der Vereinsnachwuchs des tus Stuttgart Toeloop-, Flip- und Rittbergersprünge. Christina Jöst spricht von ihren Töchtern und ihrem Sohn – neun, zehn und 13 Jahre alt –, die ab und an beim Publikumslauf mit der breiten Masse kreisen, „aber keinerlei leistungssportliche Ambitionen haben“. Sie selbst geht regelmäßig ins Fitness-Studio und düst auf Inlinern durchs Siebenmühlental. Auf Schlittschuhe stellt sie sich nicht mehr.

Die Tür geht auf, ein drahtiger Mann mit breitem Scheitel steht vor ihr, großes Hallo. „Mensch Tina, wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen“, fragt Andreas Nischwitz. „Wie geht’s dir?“

Als Tina Riegel und Andreas Nischwitz im Spätsommer 1978 zu einem Eiskunstlaufpaar vereint werden, ist sie eine 13-jährige Realschülerin, nur 40 Kilogramm schwer und ganze 1,40 Meter groß. Ein hochbegabtes Küken, das mit wippendem Pferdeschwanz kichernd über die Eisbahn hüpft, hier einen Doppelaxel hintupft, dort eine schwirrende Pirouette dreht. Er ist acht Jahre älter, 33 Zentimeter länger, Student der Zahnmedizin und – mit seiner vorherigen Partnerin Susanne Scheibe – zweifacher Deutscher Meister. Ein kräftiger, erfahrener Athlet. Die Stuttgarter Riegel/Nischwitz, so der Plan ihres Trainers Karel Fajfr, sollen die große deutsche Paarlauftradition wieder aufleben lassen.

Der steile Weg nach oben

Tatsächlich führt ihr Weg steil nach oben. Nach einem halben Jahr gemeinsamen Trainings hat das ungleiche Paar fast alle Höchstschwierigkeiten in seiner Kür und wird auf Anhieb Deutscher Meister. Punktrichter und Publikum erliegen Tinas kindlichem Charme. Und er? Ist das stabilisierende Element der sportlichen Zweckbeziehung. Schleudert sie durch die Luft, fängt sie sicher auf. Riegel/Nischwitz erzielen die besten Platzierungen eines deutschen Eislaufpaares seit den glorreichen Zeiten von Marika Kilius und Hans-Jürgen Bäumler: Silbermedaille bei den Europameisterschaften im Februar 1981, Bronze bei der Weltmeisterschaft im Monat darauf.

„Die Erfolge haben unsere Probleme überdeckt“, sagt Andreas Nischwitz heute. Mittlerweile ist er 55, seine Silberhochzeit liegt sieben Jahre zurück. Nischwitz hat drei erwachsene Kinder und führt eine florierende Zahnarztpraxis in Tübingen-Hirschau. Man kann sich gut vorstellen, wie er mit seiner abgeklärten Art die Patienten beruhigt. Über seine Karriere als Eiskunstläufer spricht er wie über Parodontitis: Spürt man den Schmerz, ist bereits einiges kaputtgegangen.

Als Sechsjähriger wird Andreas Nischwitz von seiner Mutter zum Training auf die Waldau geschickt. Er nimmt die Straßenbahn zur Ruhbank, von dort geht es durch den dunklen Degerlocher Wald („Ich hab tierisch Schiss gehabt“). Zunächst kommt Andreas in die Obhut der ehemaligen Rollkunstlaufweltmeisterin Helene Kienzle-Beck. Dann, 1975, wird Karel Fajfr sein Lehrherr.

Fajfr, der während des Prager Frühlings aus der Tschechoslowakei abgehauen war, ist der starke Mann beim tus Stuttgart. Niemand engagiert sich derart intensiv für den Vereinsnachwuchs wie er. Fajfr schafft wie ein Besessener, acht Stunden als Architekt, anschließend sechs als Trainer. Er lebt von Kaffee und Zigaretten. Täglich geht er an seine Grenzen und erwartet dasselbe von seinen Schützlingen. Andreas (griechisch: „der Tapfere“) Nischwitz kommt mit der autoritären Art seines Trainers zurecht: „Er konnte ja auch ein guter Kumpel und Motivator sein.“

Die Leiden der jungen Eiskunstläuferin

Fajfrs anderes Gesicht ist das des gnadenlosen Despoten. Gegenüber jungen Männern zeigt er noch ein Mindestmaß an Respekt. Mädchen hingegen behandelt er, Chauvi durch und durch, wie Hunde: Er richtet sie mit einer Kombination aus Abhängigkeit, Angst und Unterwerfung ab.

Im Rückblick erscheint es pervers, was der Trainer mehr als zwei Jahrzehnte lang in einem Stuttgarter Sportverein treiben durfte. Erst als Fajfr 1995 von seiner Eislaufschülerin Patricia J. angezeigt worden war, endete seine Dienstzeit auf der Waldau: Zwei Jahre auf Bewährung wegen Misshandlung und sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen, urteilte das Landgericht.

Was hätte Tina Riegel erreichen können, wenn ihr nicht ein cholerischer Kerl den Eiskunstlauf verleidet hätte? 1980 landete sie bei der WM in der Einzelkonkurrenz vor Kati Witt. Die Chemnitzerin Witt wurde später x-fache Europa- und Weltmeisterin sowie zweifache Olympiasiegerin, bis heute kann sie von ihrem Ruhm bestens leben. Christina Jöst, wie Witt Jahrgang 1965, fährt halbtags als mobile Fußpflegerin durch Stuttgart und versucht noch immer, das Trauma zu verarbeiten, das ihr Fajfr zugefügt hat: „Psychologen sagen, dass ich das wohl nie ganz schaffen werde.“

Gut dreißig Jahre sind seitdem vergangen, doch wenn Christina Jöst über ihren damaligen Trainer spricht, brechen die alten Wunden wieder auf. Sie erzählt, wie sie beleidigt, in den Arm gezwickt und ins Gesicht geschlagen wurde. Wenn sie nach einem Sprung stürzt, muss sie sich anhören, dass sie eine blöde Kuh sei, die sich nicht genügend anstrenge. An Silvester, nach einer Auseinandersetzung im Trainingslager, sperrt er sie stundenlang ins Zimmer ein. „Mir wurde von ihm stets vermittelt, dass ich nichts wert bin, wenn ich nicht die geforderte Leistung bringe“, erzählt sie. „Das war Psychoterror.“

Nischwitz macht sich heute noch Vorwürfe

Im November 1981 schickt Fajfr sein heranwachsendes Talent trotz eines entzündeten Zahns und Fieber in Oberstdorf aufs Eis. Die geschwächte Eisprinzessin fällt auf die hart gefrorene Fläche und bricht sich den rechten Knöchel.

Warum griff niemand rechtzeitig ein? Andreas Nischwitz – damals 24 – sagt, dass er sich noch immer Vorwürfe mache: „Aber man muss sich die Situation vorstellen wie in einem totalitären Staat. Wenn man die Zustände anprangert, ist man weg vom Fenster. Fajfr hatte eine unglaubliche Macht.“ Und die Eltern? „Tinas Vater war zu devot. Der hat gemacht, was ihm Fajfr gesagt hat.“

Zwei Jahre lang ist Tina Riegel ein gefeierter Teeniestar. Wenn sie nach der Kür einen kecken Knicks macht, regnen Blumen und Teddybären aufs Eis, Ovationen donnern durch die Hallen in Dortmund, Innsbruck oder Hartford. Tina hier, Tina da. Bitte noch ein Foto, bitte noch ein Autogramm. Die „Tagesschau“ berichtet über das schwäbische Wunderfräulein, „Bravo“ druckt ein Poster mit Tinas niedlichem Gesicht, und selbst das Feuilleton gerät ins Schwärmen. „Wenn sie mit der Schulter zuckt oder die Zacke ihres Schlittschuhs im Rhythmus der Musik aufs Eis tippt, dann biegen sich die Tribünen vor Entzücken“, schreibt „Die Zeit“.

Jöst scheint noch immer nach dem Glück zu suchen

Am 5. August 1982, kurz vor ihrem 17. Geburtstag, zieht Tina Riegel nach acht Jahren Leistungssport die Schlittschuhe für immer aus. Sie will sich nicht mehr neben der Schule dreißig Stunden wöchentlich auf dem Eis schinden, sich nicht mehr bevormunden lassen, keine Pirouetten mehr drehen und lächeln, obwohl ihr zum Weinen zumute ist. Alle Versuche von Fans und Funktionären, sie nach ihrer Fußverletzung zum Weitermachen zu bewegen, schlagen fehl. Allüren einer Pubertierenden, schreibt die Sportpresse.

Auch für Andreas Nischwitz ist die Eislaufkarriere damit beendet. Ein neues Leben beginnt: nicht mehr vormittags an die Uni, danach mit dem Auto auf die Waldau, kurz bei den Eltern etwas essen, zurück zur Uni, abends wieder Training, manchmal bis Mitternacht, dazu Wettkämpfe rund um den Globus. Im September 1982 heiratet Andreas Nischwitz, seine Braut ist zu diesem Zeitpunkt bereits schwanger. 1983 besteht er das Examen in Zahnmedizin, drei Jahre später eröffnet er eine eigene Praxis. „Ich mache meinen Beruf unheimlich gern“, sagt er.

Der patente Andreas Nischwitz hat sein Glück gefunden, die sensible Christina Jöst scheint noch immer danach zu suchen. „Ich habe in meinem Leben oft Pech“, sagt sie. Ihre Kinder besuchen die Waldorfschule, sie sollen sich frei entwickeln ohne Druck und Drill. Christina Jöst muss sparsam haushalten, trotzdem hat sie Angebote abgelehnt, sich für den „Playboy“ auszuziehen oder für RTL im Dschungel zu campen. Für kein Geld der Welt würde sie sich noch einmal zur Sklavin der Mediengesellschaft machen lassen.