Er gilt gemeinhin als der Vater der Moderne. Die Kunsthalle Karlsruhe zeigt nun eine spannende, andere Seite des französischen Malers Paul Cézanne.

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Karlsruhe - Der Jacke möchte man nicht begegnen. Scheinbar harmlos liegt sie auf einem Stuhl. Doch der Stoff scheint zu leben, er wächst und wuchert wie ein Organismus und breitet sich aus wie Schimmel im Keller. Wenn Paul Cézanne Gegenstände malte, entwickelten sie ein Eigenleben. Der „Steinbruch Bibémus“ (um 1895) brodelt, bricht und kippt schier, die Felsen auf Cézannes Waldlandschaften wirken wie Rücken von kriechenden Urviechern. Oder die drei Totenköpfe auf der „Schädelpyramide“ (1898-1900) – energisch drängen sie sich ins Bild und scheinen sich mit den letzten verbliebenen Zähnen in den Vordergrund durchbeißen zu wollen.

 

Bei Paul Cézanne ist nichts, wie es ist. Das zumindest ist die These von Alexander Eiling, der sich dem großen französischen Meister in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe nun in ungewöhnlicher Weise annähert. Die von Eiling kuratierte Sonderausstellung „Cézanne. Metamorphosen“ ist keine opulente Retrospektive, sie pickt sich auch nicht wie so oft einzelne Themen oder Motive heraus. Alexander Eiling hat vielmehr eine interessante kunsthistorische These entwickelt: Er will zeigen, wie kühn Cézanne zwischen den Gattungen hin und her sprang. Denn Menschen malte er starr wie Stillleben, die Gegenstände durchpulst dagegen Leben. Das Handtuch, das am Toilettentisch hängt, erinnert an ein menschliches Hinterteil, die Decke im ungemachten Bett wölbt sich energisch auf.

Die Skizzen sind weder souverän noch virtuos

Gut 200 Arbeiten, darunter viele Leihgaben, sollen diese These untermauern, darunter auch zahlreiche Zeichnungen und Aquarelle. Gerade die beiläufigen Skizzen – von einem Kaminsims oder einem Ohr – überraschen. Denn der Strich ist hier oft zaghaft und unsicher. Die Blätter sind weder virtuos noch souverän, sondern verraten einen zögerlichen Künstler, der vorsichtig tastet und sucht.

Cézanne, 1839 in Aix-en-Provence geboren, hat viel kopiert. Er studierte die großen Meister, die im Louvre hingen, orientierte sich aber auch an zeitgenössischen Werken. Gemeinsam mit seinem Freund Camille Pissarro malte er in die Natur. Einige Beispiele der Malerkollegen in der Karlsruher Ausstellung machen die Unterschiede deutlich: Pissarros „Junimorgen bei Pantoise“ (1873) ist frisch, lebendig, sinnlich, eine kulinarische Malerei zum Schwelgen. Bei Cézanne wirken Landschaften dagegen statisch und konstruiert, man hört kein Rascheln der Blätter, spürt nicht das flirrende Sonnenlicht.

Das ist, worin die Kunstgeschichte das Moderne seines Werkes sieht: dass er sich nicht mehr der Perspektive unterordnet und die Gegenstände abstrahiert und reduziert. Die Malerei Cézannes ist spröder als die der Impressionisten. Der scheue Künstler wurde verhöhnt, Edouard Manet bezeichnete Cézanne boshaft als „Maurer, der mit der Kelle malt“. Anders als seine Zeitgenossen scherte Cézanne sich nicht um die Gegenwart, seine Kunst wollte zeitlos sein. Die „Badenden vor einem Zelt“ (1883-1885) etwa sind entrückt in ein fernes Arkadien, wobei der nervöse Strich das 19. Jahrhundert verrät.

Niemand mag sich von Cézanne porträtieren lassen – er malt zu langsam

Weil er sehr langsam war, wollte sich kaum jemand von Cézanne porträtieren lassen. Zwei Jahre lang arbeitete er an dem Bildnis seiner Frau Hortense, die er zwischen 1888 und 1890 in einem gelben Lehnstuhl sitzend malte – kühl, ernst, unbewegt, sodass man sich fast schon an die Neue Sachlichkeit erinnert fühlt. In der Karlsruher Ausstellung wird zum Vergleich ein Gemälde von Gustave Courbet gezeigt, das 1868 entstanden ist, also zwanzig Jahre früher, und in ausformulierter Malerei einen Mann voller Charakter zeigt. Cézannes Bildnis von Jules Peyron (1885-87) dagegen: starr, fast leblos.

Das Konzept geht auf

Das unterstreicht die These von Alexander Eiling, dass Cézanne seine Figuren wie Objekte darstellte – während die Gegenstände ein Eigenleben entwickeln. Das an sich etwas akademische Konzept der Ausstellung erweist sich doch als kluger Zugang, weil es motiviert, nicht nur zu flanieren, sondern in die Arbeiten einzutauchen, Kompositionen zu studieren oder Motive zu vergleichen. Immer wieder trifft man auf ähnliche Figuren – etwa die Kriegsgöttin Bellona, die Cézanne bei Rubens entdeckte und vielfach kopierte. Die muskulöse Kämpferin gerät ihm in Zeichnungen eher ungelenk und allzu kräftig, die markante Drehung der weiblichen Figur findet sich aber abgewandelt in mehreren Gemälden – etwa in der „Versuchung des heiligen Antonius“ (um 1877).

Auch sitzende Männerfiguren ziehen sich durchs Werk, wobei Cézanne sich nicht für deren Physiognomie oder Charakter interessierte. Der Mann auf einer Terrasse verschmilzt mit den Bäumen, sein Gesicht ist nur noch undefinierte Farbmaterie. Damit scheint der Künstler gefunden zu haben, was er suchte: Ihm ging es letztlich nicht um das, was er abbildete, sondern um die Malerei an sich. Deshalb wirken einige Gemälde auch wie unfertig und verlieren sich im vagen Strich. In den Aquarellen und Zeichnungen ging er noch weiter. Hier sind ganze Partien wie ausradiert, sodass die Motive löchrig wirken, zerfranst – und es sich letztlich um nicht mehr handelt als ein paar leichte Striche auf Papier.