Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach feiert sein 60-jähriges Bestehen. Ein Blick zurück mit dessen Direktor Ulrich Raulff.

Kultur: Stefan Kister (kir)
Marbach - Es ist nicht so, dass Ulrich Raulff das Deutsche Literaturarchiv in Marbach neu erfunden hätte. Doch seit er vor gut zehn Jahren die Leitung übernommen hat, treten die Institute auf der Schillerhöhe mit einem Selbstbewusstsein in Erscheinung, das ihrem Rang gebührt. Raulff steht für einen Stil des Denkens, der profunde Gelehrsamkeit und Eleganz in sich vereint. Marbach ist weltläufiger geworden. Das ging nicht immer ohne Konflikte ab, wie sich im Gespräch zeigt.
Herr Raulff, Jubiläen sind Hochzeiten des Archivs. Angenommen Sie müssten drei Gegenstände benennen, die für entscheidende Wegmarken der letzten sechzig Jahre in Marbach stehen, welche wären das?
Hier fängt immer alles mit Schiller an. Nun haben wir von Schiller gar nicht so viele Manuskripte, weil Schiller zwar die Klugheit besaß, in Marbach zur Welt zu kommen, aber die Dummheit beging, in Weimar zu sterben, so dass dort mehr Manuskripte von seiner Hand liegen als hier. Wenn also Schiller das erste Objekt hergeben sollte, so wäre das die schöne Dannecker-Büste. In ihrer klassizistischen Schönheit hat sie unser Bild des Dichters geprägt. Sie steht gleichzeitig für einen Aspekt unseres Archivs, der immer wichtiger geworden ist, nämlich unsere große Bildersammlung.
Und der zweite Gegenstand?
Das Cotta-Archiv. Das ist ein gigantisches Papierobjekt bestehend nicht zuletzt aus der Korrespondenz, die der Verleger mit Gott und der Welt führte. Cotta war ein geistiges Imperium, vergleichbar allenfalls mit dem Suhrkamps in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Stand Schiller am Beginn der musealen Aktivitäten, steht Cotta am Ursprung des Deutschen Literaturarchivs.
Mit ihm die Stuttgarter Zeitung.
Richtig. Das Cotta-Archiv kam als Stiftung der Stuttgarter Zeitung in den fünfziger Jahren hierher. Es sprengte in jeder Hinsicht den bis dahin bestehenden Rahmen des Sammelns: räumlich, weil sofort alle Platzverhältnisse nicht mehr ausreichten, aber auch sammlungspolitisch, weil man sich bis dahin weitgehend auf den schwäbischen Umkreis beschränkt hatte. Mit Cotta war man im gesamten Einzugsbereich der deutschen Sprache angekommen.
Das dritte Objekt?
Ich würde Ihnen gerne etwas sehr Schönes nennen, was für unsere großen Sammlungen von lyrischen Autoren bezeichnend wäre, etwa den Nachlass von Gottfried Benn oder den von Paul Celan. Aber ich glaube doch, als Drittes sollte man den Nachlass Martin Heideggers nennen, den wir ja noch als Vorlass von ihm selbst übernommen haben. Man muss Heidegger nennen, weil mit ihm nach den Bildern und dem literarischen Archiv der philosophische und ideengeschichtliche Sammlungsteil beginnt. Er ist nicht nur der wichtigste philosophische Autor des 20. Jahrhunderts, sondern auch der, der uns immer wieder am meisten zu schaffen macht.
Je mehr wir über den Antisemitismus Heideggers erfahren – zuletzt mit der Publikation der ersten Bände seiner „Schwarzen Hefte“ –, desto lauter wird die Kritik an den Nutzungsbeschränkungen, die auf seinem Nachlass liegen. Der Vorwurf richtet sich auch gegen Marbach.
Diese Beschränkungen wurden ja noch von ihm verfügt. Frei gegeben wird alles, was gedruckt wurde. Mittlerweile ist das schon sehr viel. Was nicht für die Gesamtausgabe vorgesehen ist – Briefe von ihm und an ihn, vom Umfang her ziemlich bedeutende Bestände an Vorarbeiten, Exzerpten und Aufzeichnungen aller Art –, soll nach dem Willen Heideggers nicht zugänglich gemacht werden. Darüber denken jetzt aber die Erben sehr intensiv nach, ob und wie sie dieses doch ändern können. Aber das ist Sache der Erben. Wir sind durch den Vertrag an den Willen des Bestandbildners gebunden.
Vereitelt das nicht eine, wenn nicht die zentrale Aufgabe des Archivs: die Genese von Texten transparent machen zu können?
Wir sind ein Literaturarchiv, kein politisches, kein Staatsarchiv. Wir bekommen lauter Einlieferungen von individuellen Personen. In jedem einzelnen Fall machen wir einen Vertrag. Wir haben bestimmte Benutzungsbedingungen. Die können nicht unterschritten werden. Sie können aber in Teilen strenger gefasst werden, wenn der Bestandsgeber das verlangt. Das kommt häufig vor. Was den Fall Heidegger so ungewöhnlich macht, ist das hohe Interesse an diesem Autor, an seinen politischen und philosophischen Optionen.