Die berüchtigen Pflastersteine machen das Rennen Paris-Roubaix zu einem der härtesten Radrennen des Jahres. Die Fahrer der mehr als 250 Kilometer langen Strecke hatten dieses Jahr 52 Kilometer Kopfsteinpflaster zu überwinden.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Paris - Plötzlich bleibt Mario wie angewurzelt stehen. Er starrt auf einen sattgrauen Pflasterstein vor seinen Fußspitzen, greift nach seiner Kamera und macht ein Foto. „Seht euch das an“, ruft er und winkt, „der sieht aus wie ein lachendes Babygesicht.“ Andere Zuschauer werden auf ihn aufmerksam, kommen vom Straßenrand auf Mario zu, und auch sie knipsen den Stein. Diese Szene ist kaum zu erklären, muss aber mit dem Herdentrieb zusammenhängen, denn selbst nach sehr eingehender Betrachtung unterscheidet sich das Stück Granit in keiner Weise von all den Millionen anderen Pflastersteinen auf der knapp über 250 Kilometer langen Rennstrecke zwischen Paris und Roubaix.

 

Claudio zuckt mit den Schultern. „Mario ist ein Fanatiker“, sagt er und Stefano stimmt ihm, ohne zu zögern, zu. Doch was ist davon zu halten, wenn ein Verrückter und ein Besessener über ihren besten Freund sagen, er sei ein Fanatiker? Doch auf dieser kleinen gepflasterten Straße sind die Regeln des normalen Lebens außer Kraft gesetzt. Die drei Italiener aus der Nähe von Mailand stehen im Wald von Arenberg. Hier verläuft jene 2400 Meter messende Schneise aus Pflastersteinen, die den Namen „La Tranchée“ trägt, der Schützengraben. Es ist die Schlüsselstelle des Radklassikers Paris–Roubaix, hier ist schon oft über Sieg oder Niederlage entschieden worden. Für jeden Radsportfan ist dieses Stück ruppiger Feldweg geheiligte Erde.

Abfahrten glitschig wie Schmierseife

Am Abend zuvor haben die drei Männer an der Bar im Ibis Hotel in der Stadt Valenciennes gesessen. Mit einem Bier in der Hand haben sie den Tag Revue passieren lassen. Besser gesagt: sie haben sich gegenseitig ihre persönlichen Heldengeschichten erzählt. Von Schlammpfützen tief wie ein Ozean ist die Rede, von Abfahrten glitschig wie Schmierseife und vom Kampf, Mann gegen Mann. Die drei waren nicht im Krieg, sie haben lediglich an dem Rennen teilgenommen, das ambitionierte Amateurfahrer einen Tag vor dem Profi-Radklassiker Paris–Roubaix absolvieren. Für diesen einen Tag haben sie sich ein Jahr lang gequält, sind, um sich abzuhärten, selbst im Winter im Freien Tausende von Kilometern gefahren und haben ihre Ehefrauen mit ihrem Gehabe an den Rand der Verzweiflung gebracht – das alles, um Teil des Mythos von Paris–Roubaix zu werden.

Dafür wissen sie jetzt genau, warum das Eintagesrennen die Hölle des Nordens genannt wird. Mehr als 50 Kilometer der gesamten Strecke führen über die berüchtigten Pflastersteine. „Das fühlt sich an, als hättest Du ein Maschinengewehr unter deinem Hintern“, beschreibt Mario seine Erfahrungen vom Vortag. Nicht allen gelingt es, sturzfrei mit Höchstgeschwindigkeit über die Rüttelpiste zu navigieren. „Jeder der ankommt, ist ein Überlebender“, sagte einst Marc Madiot, zweimaliger Sieger des Rennens.

Immer mehr Straßen wurden geteert

Der Klassiker stand schon kurz vor dem Aus. Das ist kaum zu glauben angesichts der Begeisterung am Straßenrand. Das Ende drohte nicht, weil es zu wenige Fahrer gegeben hätte – das Problem waren die fehlenden Pflastersteinabschnitte, die Pavés. 1965 waren die meisten Straßen geteert, es wurden nur noch 22 Kilometer auf dem schwierigen Untergrund zurückgelegt. Die Veranstalter begannen, den Streckenverlauf ständig zu verändern und überzeugten immer mehr Gemeinden, die historischen Wege wieder freizulegen.

Natürlich kennen Mario und seine Freunde all diese Geschichten. „Aber man muss das selbst erlebt haben“, sagt Stefano. Fast andächtig stehen sie am Sonntag im Wald von Arenberg und schweigen, als das Feld der Profifahrer auf sie zurast. Wie Maschinen stampfen die Fahrer in die Pedale, die Köpfe tief über die Lenker gebeugt. Keuchen ist zu hören, manchmal ein Fluchen. Die Zuschauer versuchen einzelne Profis auszumachen. Angefeuert von der Menge verschwindet das Feld schnell am Horizont, rollt weiter Richtung Roubaix, wo Stunden später der Deutsche John Degenkolb als Erster im Velodrome ankommen wird. „Hast du das gesehen?“ fragt Claudio seine Kumpels. „Dagegen haben wir eine Spazierfahrt gemacht.“

Degenkolb schreibt Geschichte