Rosita und Helmut Sperlich betreiben ihr Figurentheater in der neunten Generation. Der Besuch bei ihnen lehrt einen zwei Dinge: Dass Puppenspiel kein Kinderspiel ist und dass man für den Kasper nie zu alt wird.

Region: Verena Mayer (ena)

Rommelshausen - Die Situation ist angespannt, das merkt man gleich. Daran, dass Helmut Sperlich vor der Eingangstür des katholischen Gemeindehauses in Rommelshausen auf- und abgeht. Daran, dass Rosita Sperlich nicht da ist. Und daran, dass alles, was längst im Gemeindesaal sein sollte, noch immer im Laderaum des kleinen Transporters gestapelt ist. Um 15 Uhr wollten die Sperlichs mit dem Aufbau ihrer Puppenbühne beginnen. Doch der Schlüssel fürs Gemeindehaus fehlt.

 

Die erste Hälfte dieses Tages sind Sperlichs durch Pattonville im Kreis Ludwigsburg gefahren. Um Werbung zu machen für ihren Auftritt im Bürgersaal Ende Januar. Das heißt: Plakate kleben, Flyer verteilen in Schulen und Kindergärten. Und zwischenrein Telefonate, um weitere Spielstätten klarzumachen. Lücken im Tourneeplan sind schlecht. Wenn jetzt nicht bald der Schlüssel für das katholische Gemeindehaus auftaucht, dann war dieser Tag finanziell betrachtet für die Katz. Ohne Schlüssel kein Zutritt, ohne Zutritt kein Auftritt. Und ohne Auftritt kein Eintrittsgeld.

Helmut Sperlich ist 61, seine Frau Rosita 64. Die Bühne, mit der das Ehepaar durch die Region reist, heißt Remstaler Figurentheater. Die beiden betreiben das Puppenspiel in der neunten Generation, wobei es früher Original Pfälzer Puppenbühne hieß. Ein Kinderspiel ist ihr Beruf nie gewesen. Einmal, so lange ist das noch gar nicht her, waren Sperlichs kurz davor, für immer einzupacken. Dann ging es doch weiter. Inzwischen ist sogar klar, dass die Zukunft ihres Figurentheaters auch für die zehnte Generation gesichert ist. Wer einen Besuch des Kasperles wie den in Rommelshausen erlebt, ist sehr erleichtert, wenn Rosita Sperlich, nachdem sie endlich den passenden Saalschlüssel aufgetrieben hat, sagt: „Wir lassen uns nicht unterkriegen.“

Kasperle im Koffer

Jetzt aber schnell die Heizung im eiskalten Gemeindesaal einschalten und noch schneller den Transporter entladen. Raus mit den meterlangen Alustangen, die der Bühne ihren Rahmen geben. Ran an die Koffer, in denen die selbst gefertigten Kulissen verwahrt sind. Da ist die Truhe mit dem samtigen Vorhang, der so schwer ist, dass Helmut Sperlich die Kiste nicht alleine tragen kann. Da sind die Lautsprecher, ohne die das Kasperle kaum zu verstehen wäre. Schon gar nicht, wenn er so lustig pfeifend schnarcht, wie er das in jedem Stück tut. Und ganz besonders wichtig: die Koffer, in denen sich das Kasperle und seine Kollegen zwischen ihren Auftritten ausruhen.

Würde man nicht mit eigenen Augen sehen, dass Rosita und Helmut Sperlich auf zwei Beinen zwischen Auto und Saal hin- und herhasten, man könnte glauben, sie fliegen. So schnell verwandeln sie den kahlen Gemeindesaal in einen bezaubernden Wald mit malerischen Bäumen und einem einladenden Weiher. Und würde die Heizung nicht bereits auf vollen Touren laufen, müsste einem auch einfach so warm werden, wenn man sieht, wie die zierliche Rosita Sperlich aus ihren gefütterten Stiefeln steigt und in ungefütterte Schuhe mit Absatz schlüpft. Ohne die paar Zentimeter extra bekämen die Zuschauer vor der Bühne nur die Haare der Handpuppen zu sehen.

Als Rosita Sperlich noch ein Kind war (und mit Nachname Richter hieß), stand sie persönlich auf der Bühne. Sie gab die Goldmarie aus „Frau Holle“, spielte die Königin im „Rumpelstilzchen“, und kam „Hänsel und Gretel“ zur Aufführung, war sie die Gretel. Obwohl darin viel gesungen wurde – und sie gar nicht singen kann. Diesen Part übernahm ihre Schwester, die junge Rosita musste lediglich ihre Lippen bewegen. So gab es immerhin genug zu tun für alle acht Richter-Kinder, deretwegen Vater Albert vorübergehend mit der Familientradition gebrochen hatte und vom Puppenspielerfach zum Menschenspiel gewechselt war. Mit großem Erfolg, wie Rosita Sperlich berichtet. Ihre Hessische Märchenbühne füllte große Säle, und von den jungen Schauspielern gab es sogar begehrte Autogrammkarten.

Kasperles dunkle Vergangenheit

Als sie vor 43 Jahren Helmut kennenlernte, verlegte Rosita ihr Engagement hinter die Bühne. Auch ihr Mann entstammt einer namhaften Schaustellerfamilie. Seine Verwandten sind im Akrobatikgeschäft (Waiblinger Weihnachtscircus, Circus Bonanza) aktiv und ebenfalls im Figurenbusiness (Cinderella-Bühne Hirrlingen, Berliner Puppentheater). Man kann also vermuten, dass bei den geschichtsträchtigen Sperlichs das geschichtsträchtige Kasperle in guten Händen ist.

Zum Glück müssen die Hauptdarsteller des heutigen Tages nicht in die Garderobe. Dafür wäre jetzt keine Zeit mehr. Kaum, dass Helmut Sperlich die letzten Stühle aufgestellt und Rosita Sperlich den Tisch für ihre Kasse aufgebaut hat, treten die ersten Gäste ein. Gut also, dass die Krone des Königs allzeit perfekt sitzt, der Bart des Wachtmeisters immer gut in Form ist, Gretels Kleid nie Falten hat und Seppels blaue Augen stets so erwartungsfroh strahlen, als könnte er es kaum erwarten, demnächst dem grimmigen Räuber einen Goldschatz abzuluchsen. Wobei – ist das wirklich so? Schaut der Räuber Schwarzbart nicht irgendwie unsicher drein? Und bei seinem Komplizen Wurzel, ist das nicht Angst in seinen Augen? Ja sogar beim Kasper, kann man sich fragen, ob er nicht ein bisschen verschlagen wirkt mit seinem breiten Mund und seiner markanten Nase. Dunkel genug ist seine Vergangenheit ja.

Der Kasper, der sich zur Unterhaltung des Volkes bis ins 18. Jahrhundert auf Jahrmärkten rumtrieb, war ein rauer Geselle. Seine Sprache – eher vulgär, sein Erscheinen – häufig betrunken, sein Verhalten – gerne grob. Seine zahlreichen Konflikte löste er nicht mit Köpfchen, sondern mit dem Hammer oder einer Bratpfanne. Dass er schließlich die Kurve zum Hilfspädagogen gekriegt hat, ist dem Geist der Aufklärung verdanken, der Kinder als eigenständige Persönlichkeiten anerkannt hat – für die es passender Literatur und Kultur bedurfte. Zur Geschichte des Kaspers gehört leider auch, dass er – je nach politischer Lage – auch als Kolonialist, Sozialist oder Faschist getarnt auftrat. Der Kasper von heute ist ein anständiger Kerl. Er überführt Diebe, hilft Menschen in Not, sogar in der Verkehrserziehung kommt er zum Einsatz. Er ist ziemlich clever, ein echter Teamplayer und richtig lustig.

Was hat der Schwarzbart vor?

Wobei – kann eine bemalte Holzkugel vergnüglich sein? Oder pfiffig? Kann sie überhaupt irgendwie sein? „Das Kind wandelt die ganze Welt um, es schafft sich eine eigene Welt. Das Kind stellt in ihr jedes gewünschte Wesen dar“, schrieb der berühmte Puppenspieler Friedrich Arndt einst. „Die Puppe ist nichts ohne den Spieler, sie zwingt uns, sie zu verlebendigen, sonst bleibt sie funktionslos“, schreibt die Pädagogin und Psychotherapeutin Gabriele Pohl. Bei den Sperlichs lassen sich die jungen Zuschauer am Ende der Aufführungen immer mit den Hauptdarstellern fotografieren. Als wären sie reale Stars. Damit ist eigentlich alles gesagt.

Es ist schwierig zu sagen, was bewegender ist: die beseelten Puppen auf der Bühne oder die seligen Kinder davor. „Der Wachtmeister ist ein böser Mann, nicht wahr?“, sagt der Räuber Schwarzbart, der vor dem Wachtmeister selbstverständlich auf der Hut ist. „Ne-e-ein!“, brüllen die Buben und Mädchen zurück. „Darf man stehlen?“, fragt der Kasper, der in seinem Versteck natürlich genau gehört hat, was der Schwarzbart vorhat. – „Ne-e-ein!“, rufen die Kinder. Sie zeigen ihm, wo die Beute versteckt ist: „Da, da, daaaaaa.“ Und kreischen „nein, nein, nein“, als der Kasper dem bösen Wurzel in die Arme zu laufen droht. Einige reißt es vor Aufregung von ihrem Stuhl. Der Mimik von Helmut und Rosita Sperlich hinter der Bühne nach zu urteilen, haben auch sie Spaß. Aber das können die Kinder nicht sehen.

Was man auch nicht sieht, ist der Schweiß, der den Puppenspielern auf ihren Gesichtern steht. Und die Schmerzen in der Schulter vom vielen Armehochhalten. Und dann die wiederkehrenden Sorgen: Wird es gelingen, für jeden Tag eine Spielstätte zu finden? Ist die Konkurrenz schneller? Kommen genügend Zuschauer? In Rommelshausen sind es 60. Macht rund 300 Euro, viel Geld für die Saalmiete darf da nicht mehr draufgehen. Vor sieben Jahren hätten Helmut und Rosita Sperlich beinahe aufgegeben. Ihre Arbeit lohnte sich nicht mehr. Über Monate hinweg kamen – warum auch immer – nicht mehr als 15 Kinder zu den Aufführungen. Die Eheleute lösten ihre Lebensversicherung auf und stellten sich darauf ein, ihre Puppen, wenn man so will, einzuschläfern. Doch dann kam die Kreissparkasse und engagierte die Sperlichs für ein langfristiges Schulprojekt. Ihr Theater war gerettet. Inzwischen haben sich sogar Werner Marcus Sperlich und seine künftige Frau Lorena entschieden, ihr Leben auf der Puppenbühne zu bestreiten. Momentan tourt das junge Paar durch den Ostalbkreis.

Gold für den Müller

Es gibt Puppen an Fäden und Puppen an Stäben. Es gibt Stücke für Erwachsene und Stücke für Jugendliche. Es gibt Ensembles mit eigener Bühne, es gibt Stätten, die gefördert werden, und an der Stuttgarter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst gibt es sogar einen Studiengang für Puppenspiel. Mit den Puppen, die in Rommelshausen auftreten, hat das wenig zu tun. Aber man sieht: Der Kasper hat viele Seiten, und man ist für ihn nie zu alt.

Es dauert nicht ganz eine Stunde, dann hat der Wachtmeister den Schwarzbart verhaftet und den Wurzel ebenfalls. Das Gold, das der Kasper mit dem Seppel in Sicherheit gebracht hat, bekommt der Müller, der damit seine Schulden beim König bezahlen kann. „Hat es euch gefallen?“, fragt der fröhliche Hauptdarsteller die glücklichen Zuschauer. Die Antwort, der Vollständigkeit halber: „Jaaaaaaa!“

Helmut und Rosita Sperlich räumen ihre Puppen in den Koffer und tragen die Lautsprecher in den Wagen. Runter mit den Kulissen, rein mit dem Vorhang in die Truhe. Die Bühne zusammenklappen, die Stühle wegräumen und den Saal sauber fegen. Das war’s. Jetzt heim in den Wohnwagen. Am nächsten Morgen geht es nach Ludwigsburg zum Plakatekleben und am Mittag zum Auftritt nach Beutelsbach. Hoffentlich klappt alles.