Das Haus am Killesberg ist ein Seniorenzentrum in absoluter Toplage. Nun soll das Gebäude abgerissen und durch einen Neubau ersetzt werden. Einige Bewohner wollen nicht freiwillig weichen.

Reportage: Frank Buchmeier (buc)

Stuttgart - Frank Beutter wohnt von klein auf am Killesberg. Mitte der 1920er Jahre haben seine Eltern am Ende einer Sackgasse ein Eigenheim gebaut, das sie später dem Sohn und dessen Ehefrau Bertlinde überließen. Zweihundert Meter entfernt betrieb Dr. med. dent. Frank Beutter seine Praxis, jahrzehntelang ließen sich die Bürger aus dem Stuttgarter Norden von ihm auf den Zahn fühlen. Sein prominentester Patient war Theodor Heuss.

 

Obwohl sich Beutter als Vorsitzender eines Sportbootvereins am Bodensee fit gehalten hatte, machte ihm eines Tages die Gesundheit so zu schaffen, dass er sein gewohntes Dasein ändern musste. Schweren Herzens trennte er sich von seinem Elternhaus und zog mit Bertlinde auf den Gipfel des Killesbergs, in die wohl schönste Seniorenwohnung der Stadt.

Seit nunmehr zwei Jahren blickt das ergraute Paar über den Höhenpark hinweg bis zum Fernsehturm. Hier oben wollen die Beutters bis zum Ende ihrer Tage friedlich verweilen. Doch ihre Ruhe ist gestört, seit sie erfahren haben, dass das Gebäude abgerissen werden soll, die Eheleute und die rund hundert anderen Bewohner müssen bald raus. Frank Beutter sitzt auf seinem türkisfarbenen Sofa, neben ihm liegt ein ausziehbarer Gehstock. „Freiwillig weiche ich nicht, da müsste schon die Polizei kommen und mich raustragen“, sagt der 89-Jährige.

Die Eröffnung am 6. Mai 1975

Das Seniorenzentrum Haus am Killesberg wurde Mitte der 1970er Jahre als klassisches Altenheim mit einer zusätzlichen Pflegeabteilung erbaut. Finanziert wurde es von der Stadt und der Mühlschlegel-Stiftung. Die Eheleute Otto und Edith Mühlschlegel waren kinderlos geblieben und entschieden sich, ihr Vermögen für betagte  Mitbürger einzusetzen. „Nichts wirkt derb an dieser flach gehaltenen Anlage, die immerhin eine Gesamtfläche von 42 000 Kubikmeter umbauten Raum darstellt“, schrieb die Stuttgarter Zeitung zur Eröffnung des außergewöhnlichen Altenheims am 6. Mai 1975. „Gut gepflasterte Spazierwege führen rund um die Baulichkeit, vorbei an Bänken, Blumenbeeten und Kräutergärtchen. Man fühlt sich, als wäre man nicht in einer Großstadt, sondern in einem südlichen Ferienort.“

Betrieben wird das noble Seniorenzentrum vom Stuttgarter Kreisverband des Deutschen Roten Kreuzes. Kurz nach der Jahrtausendwende wurde es für mehr als 13 Millionen Euro umgestaltet, fast die Hälfte dieses Betrages kam von der Mühlschlegel-Stiftung (drei Millionen), dem Land (1,7 Millionen) und der Stadt (900 000), den Rest steuerte der Träger selbst bei. Seither hat es 69 Apartments mit 32 bis 114 Quadratmetern im Bereich „Wohnen mit Service“ sowie 71 Plätze in der Pflege. Am 15. November 2002 erklärte der baden-württembergische DRK-Präsident Lorenz Menz: „Das modernisierte Haus entspricht einem Neubau.“

Eine exklusive Altersresidenz

Von außen wirkt das Flachdachgebäude mit seiner eternitverkleideten Fassade wenig verlockend. Doch sobald man durch die gläserne Eingangstür getreten ist, spürt man den schöpferischen Geist des Ehepaars Mühlschlegel. Die Stifter erschufen mit ihrem Millionenvermögen eine exklusive Altersresidenz mit einem eleganten Foyer, straßenbreiten Gängen und lichtdurchfluteten Wohnräumen. Was würden sie dazu sagen, dass ihr großzügiges Geschenk nun per Abrissbirne zerstört werden soll? Man weiß es nicht, denn Otto und Edith Mühlschlegel haben längst ihre letzte Ruhe auf dem Degerlocher Waldfriedhof gefunden, Abteilung 14, Grab 9576.

Frieder Frischling ist Kreisgeschäftsführer des Roten Kreuzes und in dieser Funktion Herr über das Haus am Killesberg. Als er diesen verantwortungsvollen Job 1998 übernommen habe, erzählt der 60-Jährige, seien die Planungen für die damaligen Renovierungsarbeiten abgeschlossen gewesen. Hätte Frischling schon vorher das Sagen gehabt, wäre es dem Bau wohl schon seinerzeit an den Beton gegangen. „Manches, was nicht gemacht wurde, fällt uns heute auf die Füße“, sagt Frischling und zählt auf: Fassaden, Fenster, Balkone, Dächer, Heizung, Brandschutz – alles marode, nicht mehr zeitgemäß oder gesetzeskonform. Zudem verursache das Seniorenzentrum seit Jahren Verluste „im mittleren sechsstelligen Bereich“. Hauptgrund für diese „hohe Unwirtschaftlichkeit“ sei das ungünstige Verhältnis zwischen der Gesamtfläche und dem vermietbaren Wohnraum: Die weitläufigen Gemeinschaftsbereiche würden exorbitante Betriebs- und Unterhaltskosten verursachen. „Wir müssen etwas tun“, sagt Frieder Frischling.

Die Baukosten von 27 Millionen Euro übernimmt ein Investor

Vor zwei Jahren ließ der leitende Rotkreuzler berechnen, dass eine konventionelle Sanierung mehr als 17 Millionen Euro kosten würde. An dem Zuschnitt des Gebäudes, sagt Frischling, würde sich dadurch freilich wenig ändern, folglich gebe es keine Möglichkeit zur Refinanzierung. Bleibt Variante zwei: ein Neubau.

Das mit der Planung beauftragte Heidelberger Architekturbüro re2area verspricht auf seiner Website „Einsparungen und schnelle Return on Investment“. Geplant sind 105 Seniorenwohnungen, die zu Quadratmeterpreisen von etwa 30 Euro vermietet werden sollen. Die klassischen Pflegeplätze entfallen, wer Betreuung benötigt, kann gegen Aufpreis zwischen verschiedenen ambulanten Angeboten wählen. Die Baukosten von 27 Millionen Euro übernimmt ein Investor, von dem das DRK die gesamte Immobilie anmietet. Dieses Finanzierungsmodell praktiziert der Stuttgarter Kreisverband bereits bei einem Neubau auf dem Feuerbacher Roser-Areal, dort in Partnerschaft mit der Augsburger Patrizia Immobilien AG – ein Unternehmen, das in einem Bericht des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ als Beispiel für eine „ausschließlich Rendite-orientierte Heuschrecke“ genannt wird.

Für einige Bewohner des Hauses am Killesberg sind dies Indizien dafür, dass es dem DRK darum geht, mit dem Neubau einen möglichst großen Reibach zu machen. Bestätigt sehen sie diesen Verdacht dadurch, dass sie zu spät und unzureichend informiert worden seien.

„Vor Angst kann ich keine Nacht mehr ruhig schlafen“

Erika Moik, Vorsitzende des Bewohnerbeirats, stellt die Chronologie der Ereignisse so dar: Der DRK-Chef Frischling habe lange Zeit lediglich von einer geplanten Sanierung gesprochen und erwähnt, dass eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben worden sei. Als diese vorlag, bat der Beirat um Einsicht, die ihm bis heute verweigert wurde. Am 21. Mai 2015 habe Frischling bei  einer Bewohnerversammlung überraschend verkündet, dass das Haus bis August 2017 komplett geräumt sein müsse. „Vor Angst kann ich keine Nacht mehr ruhig schlafen“, sagt Erika Moik. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich so etwas in meinem 93. Lebensjahr noch mitmachen muss.“

Mehr als neunzig Prozent der Bewohner sind über 80 Jahre alt. Rotkreuzmitarbeiter führen mit ihnen seit einigen Wochen Einzelgespräche, um ihnen einen Umzug in das im Bau befindliche Seniorenzentrum auf dem Roser-Areal schmackhaft zu machen: Wer sich bis Ende September entscheide, bekomme den Umzug „vom DRK bezahlt und organisiert“ und werde bei der Vergabe der Wohnungen „bevorzugt behandelt“. Der Neubau verfüge über einen Dachgarten, einen großen Gemeinschaftsraum mit Küche und „fußläufige Anbindung an verschiedene Geschäfte und zum Bahnhof Feuerbach“. Erika Moik spricht dagegen von einem „Altenheim im ehemaligen Industriegebiet, direkt an der Hauptstraße neben dem Obi und dem Aldi“. Und dafür soll sie ihr ruhiges Apartment mit Blick ins Grüne verlassen? „Niemals!“

Die Biografie von Erika Moik verdeutlicht, warum manche Heimbewohner extrem darunter leiden, dass sie sich am Abend ihres Lebens an eine andere Umgebung gewöhnen sollen. Der Krieg raubte ihr eine unbeschwerte Jugend, allein zog sie zwei Söhne groß und arbeitete 47 Jahre lang als kaufmännische Angestellte. Am Abend des 19. April 2008, die Rentnerin wollte gerade mit ihrem Hund Gassi gehen, wurde sie direkt vor ihrer Wohnung in Feuerbach überfallen. „Seither traue ich mich nicht mehr alleine auf die Straße.“

Ein Zufluchtsort nach dem Trauma

Nach dem traumatischen Erlebnis fand Erika Moik im Haus am Killesberg einen sicheren Zufluchtsort, seit mehr als acht Jahren fühlt sie sich hier geborgen. Für das Eineinhalb-Zimmer-Apartment und das Drei-Gänge-Menü, das sie jeden Mittag mit anderen Senioren im Speisesaal einnimmt, zahlt sie monatlich 1200 Euro. „Das kann ich mir bei meiner Rente gerade so leisten“, sagt sie. Eine Rückkehr in den Feuerbacher Großstadttrubel könnte alte Wunden wieder aufreißen. Dass ihr das DRK in Aussicht stellt, in zwei, drei Jahren in das neu errichtete Haus am Killesberg ziehen zu dürfen, kann für Erika Moik kein Trost sein. „Wer weiß, ob ich dann noch lebe.“

Der Volksmund sagt: „Alte Bäume verpflanzt man nicht.“ Und ein Slogan des Deutschen Roten Kreuzes lautet: „Im Zeichen der Menschlichkeit“. Darf eine wohltätige Organisation Senioren wie Erika Moik ihr vertrautes Zuhause nehmen? „Ich weiß, dass ich die Rolle des Bösewichts habe“, antwortet Frieder Frischling. „In diesem Haus können mich manche leiden wie das Zahnweh.“ Es folgt ein Vortrag, in dem Begriffe wie Pflegestärkungsgesetz, Investanteil oder Flächenoptimierung vorkommen. Am Ende der Ausführung steht Frischlings Folgerung: „Zu meiner sozialen Verantwortungen gehört es auch, dass ich etwas dagegen unternehme, dass dieses Seniorenzentrum Verluste macht. Schließlich müssen auch die Mitarbeiter von irgendwas bezahlt werden.“

Beutter wird bis zur letzten Instanz kämpfen

Mehr als 3000 Euro überweist Frank Beutter monatlich an das DRK. „Wer trotz solcher Mieten unrentabel arbeitet, sollte seine Verwaltungskosten überprüfen“, sagt der Zahnarzt in Ruhestand. Der 89-Jährige erhebt sich mühsam vom Sofa, um seinen Mietvertrag aus der Schublade zu holen. Darin steht schwarz auf weiß, dass ihm und seiner Frau „nur aus wichtigem Grund“ gekündigt werden kann. „Wenn hier 105 neue Luxusapartments für Senioren entstehen sollen, sollte klar sein, dass man uns deswegen nicht rausschmeißen kann“, sagt er – und dass er gewillt sei, bis zur letzten Instanz für sein Wohnrecht zu streiten.

Eine juristische Auseinandersetzung könnte das Neubauprojekt am Killesberg jahrelang verzögern. Und es gibt eine weitere Unwägbarkeit: Das Areal, auf dem das Seniorenzentrum steht, gehört der Stadt. Der Erbrechtsvertrag mit dem DRK läuft 2046 aus, eine 27-Millionen-Euro-Investition könnte sich nur rentieren, wenn er vorzeitig um 50 Jahre verlängert würde. Fraglich ist, ob der Gemeinderat bereit ist, das Filet-Grundstück bis zum Ende des Jahrhunderts aus der Hand zu geben.