Das Sportabzeichen feiert in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag und hat immer noch viele Anhänger – bei jung und alt. Es vereint Generationen, fit zu bleiben.

Stuttgart - Die graue Wolkendecke ist fast schon erdrückend. Feiner Nieselregen und Nebelschwaden ziehen ihre Runden um den Kräherwald. Eigentlich kein Wetter, um auf der Tartanbahn das Signal abzuwarten und zu sprinten – immer und immer wieder. Der Untergrund ist nass und rutschig, aber das ist egal – zumindest manchen. Wen einmal der Ehrgeiz gepackt hat, der lässt sich auch von schlechtem Wetter nicht abhalten.

 

Werner Schönemann steht am Rand der Tartanbahn und macht Übungen vor. 20 Sportler und Sportlerinnen folgen seinem Beispiel. Nach einer halben Stunde wird es ernst. Schönemann hält die Stoppuhr in der Hand. Er ist seit 13 Jahren Übungsleiter beim MTV Stuttgart und als solcher auch für die Abnahme des Deutschen Sportabzeichens (DSA) zuständig, dem einzigen Auszeichnungssystem außerhalb des Wettkampfsports.

Komm, kämpf!

„Komm, kämpf!“ Die Anstrengung ist deutlich zu sehen. Zusammengekniffene Augen, lautes Keuchen. 50 Meter können lang sein. Horst Schidzick ist einer von diesen Sportlern, die es nicht lassen können. Zum 44. Mal absolviert er in diesem Jahr das Sportabzeichen – mit 80 Jahren. Drahtig sieht er aus, fit. „Wäre ich auf Hochleistung aus, müsste ich zu den Leichtathleten gehen. Aber das Sportabzeichen ist einfach eine Kontrolle, ob man nachlässt. Da packt einen der Ehrgeiz, immer wieder“, sagt Schidzick. Manfred Killinger steht neben ihm und nickt. Wer wüsste es besser als er? Ohne den 78-Jährigen könnten Teilnehmer wie Horst Schidzick in Stuttgart nicht an immer neuen Rekordmarken kratzen.

Killinger gründete vor 45 Jahren die erste Trainingsgruppe zur Abnahme des Deutschen Sportabzeichens beim MTV Stuttgart. Ein Novum – nicht nur in der Landeshauptstadt, sondern in ganz Deutschland. Das Sportabzeichen gibt es seit 1912, damals von der Hauptversammlung des Deutschen Reichsausschusses für Olympische Spiele unter dem Namen „Auszeichnung für vielfältige Leistung auf dem Gebiet der Leibesübungen“ geschaffen und seit 1921 als „Deutsches Turn- und Sportabzeichen“ auch für Frauen zu erwerben. Sportler trafen sich nur zur Prüfung. Um die Vorbereitung musste sich jeder selbst kümmern. „Dass Frauen, Männer und Kinder gemeinsam trainieren und das auch noch über verschiedene Altersgruppen hinweg, war unvorstellbar“, sagt er. Der Schlossermeister reiste durch ganz Deutschland, um Vorträge darüber zu halten, wie gemischte Trainingseinheiten aussehen können.

Ein Abzeichen vereint Generationen

Die 1968 noch überschaubare MTV-Gruppe von fünf Teilnehmern wuchs schnell. Inzwischen kommen an fünf Tagen jährlich über 200 Leute. Alleine kann Killinger dieses Pensum längst nicht mehr bewältigen. Zwei Gruppen mit bis zu 50 Teilnehmern leitet er aber immer noch, das lässt er sich nicht nehmen. Dabei hat Killinger selbst noch nie das Sportabzeichen gemacht. „Ich bin seit 1967 staatlich geprüfter Übungsleiter, war Jugendleiter, Betreuer und Trainer im Tischtennis und in der Leichtathletik und noch dazu Prüfer. Da blieb einfach keine Zeit mehr übrig“, sagt er.

In den 1950er Jahren war er selbst Leichtathlet, gewann die Württembergischen Meisterschaften über 3000 Meter Hürden und nahm auch an Deutschen Meisterschaften teil. Die Auszeichnungen, die er für sein jahrelanges ehrenamtliches Engagement bekommen hat, legt er stolz auf den Tisch. Es sind einige. Wie viele Sportabzeichen er denn schon abgenommen hat? Killinger schlägt die Hände vors Gesicht und schüttelt den Kopf. „Sicher über 10 000“, sagt er und lächelt fast schon entschuldigend. „Das ist halt mein Hobby.“ Etwa eine Million Sportler legen jährlich das Abzeichen in den Disziplinen Leichtathletik, Schwimmen, Turnen und Radfahren ab.

Es vereint Generationen, fit zu bleiben und dafür ausgezeichnet zu werden. Ehrgeiz kann eine große Motivation sein. „Ich glaube, das Sportabzeichen ist wie eine positive Sucht, angetrieben von der Freude an der eigenen Leistung und Auszeichnungen“, sagt Manfred Killinger. Solange er noch kann, ist er gerne bereit, andere in die Abhängigkeit zu führen – ganz ohne schlechtes Gewissen.