Familienstück mit regionaler Bodenhaftung und modernen Botschaften: Im Schauspielhaus inszeniert Hanna Müller „Das Stuttgarter Hutzelmännlein“ nach dem Märchen von Eduard Mörike.

Stuttgart - Lokalpatriotismus geht immer: In den vergangenen Jahren hatte der Stuttgarter Intendant Armin Petras immer wieder mit dem Vorwurf zu kämpfen, nur verschwurbeltes Berliner Nischentheater auf die Bühne zu bringen. Doch dem Eindruck kühler Hauptstadt-Arroganz steht nun erneut die Freude am Lokalkolorit gegenüber. Schon zum zweiten Mal sucht das Schauspiel in einer groß angelegten Produktion nach regionaler Bodenhaftung. Nach „Das kalte Herz“ ist diesmal Eduard Mörikes Märchen vom „Stuttgarter Hutzelmännlein“ an der Reihe. Das gab es zwar bereits unter Friedrich Schirmer in Stuttgart zu sehen, doch in Hanna Müllers neuer Inszenierung sitzt der Kobold in seinem roten Sandmännchen-Kostüm erst einmal unbeteiligt in der waghalsigen Bretterkonstruktion auf der Bühne.

 

Denn zunächst muss auf dieser Bühne noch Dr. Veylland sterben. Dessen letzter Wunsch ist es, das magische „Stückle Blei“, das seinen Träger unsichtbar macht, im Blautopf bei Blaubeuren zu versenken. Und ohne das verschollene Zaubermetall hätte der frustrierte Schusterlehrling Seppe Jahre später nie Besuch vom Hutzelmännlein bekommen. Als der Kobold dann endlich seinen – herrlich schrägen – Auftritt hat, schenkt er dem Jungspund zwei Paar Glücksstiefel und einen nie ausgehenden Laib Hutzelbrot, mit dem dieser sich auf die Suche nach seiner Bestimmung machen soll. Die Bedingung: Er soll dabei nach dem verzauberten Bleiklumpen Ausschau halten. Doch schusselig wie er ist, stiefelt Seppe mit je einem Schuh jedes Paars seinem Schicksal entgegen und verzweifelt zusehends bei seiner Suche nach dem Glück. Während Mörike in seinem Märchen zahllose Handlungs- und Bedeutungsstränge kompliziert ineinander verschachtelt, nimmt sich Müller für ihre Bühnenversion die Freiheit, die verschiedenen Ebenen mit kühler Präzision auf ihre Grundlinien zu reduzieren: Je nach Situation springen die sechs Darsteller in unterschiedliche Rollen und erzählen so mal einen Subplot als Randszene, mal eine ganze Episode als kurzen Einschub.

Männer spielen Frauen – und umgekehrt

Zu einem Höhepunkt wird dabei die Binnenhandlung um die schöne Lau, eine Wasserfrau, die von ihrem Ehemann in den Blautopf verbannt wurde, um dort das Lachen zu lernen. Neben Manja Kuhls berauschender Interpretation kommt hier die ambitionierte Schiffbruch-Kulisse zum Einsatz: Durch Lichteffekte und Projektionen verwandelt sich die Bühne eindrucksvoll in das Innere eines gesunkenen Frachters, der sich über die Jahre mit Wasser vollgesogen hat. In seiner Mitte baumelt die schöne Lau akrobatisch an einem Ring und wehrt sich in einer starken Performance kraftvoll gegen die völlige Vereinnahmung durch ihren Ehemann – ein expressiver Angriff auf die allzu starren Rollenbilder des Texts. Ähnlich überzeugende Umdeutungen nimmt die Inszenierung mehrfach vor: Wie in einem post-feministischen Shakespeare-Drama mischt sie die Geschlechterrollen, lässt mal männliche Parts von den Darstellerinnen sprechen, weibliche von den Darstellern – in seiner Offenheit ein erfrischender Impuls, um Zuschreibungen zu verwirbeln.

Während solche Ansätze das Potenzial des Stücks offenbaren, müht es sich in weiten Teilen aber doch mit der Suche nach seinem Tonfall ab: Kommt es gerade noch als folkloristisch humorvoller Musical-Verschnitt daher, ist es im nächsten Moment aggressives Performance-Theater, nur um sich dann wieder in eine effektvolle Zirkusnummer zu verwandeln. Ganz warm wird man mit diesem Panoptikum nicht.

Das Schwein und seine Metzger

Umso bedauerlicher, da die Regisseurin in ihrem Familienstück immer wieder grandiose Momente findet, deren Komposition so harmonisch ist, dass sie das restliche Durcheinander fast vergessen machen. Wenn Seppe im Liebesrausch seine Angebetete aus einer vollkommen anderen Szene heraus und zurück in ihr Kostüm zwingt, wird diese Interaktion zwischen Peer Oscar Musinowski und Christian Czeremnych so intensiv, dass sie an glückhaft reduziertes Performance-Theater erinnert. Doch auch von dieser ungewöhnlichen Ästhetik wendet sich „Das Stuttgarter Hutzelmännlein“ wieder ab. In offensiver Künstlichkeit lässt es die beiden Geliebten stattdessen ein Schwein schlachten – und während Felix Mühlen noch beleidigt „Och nö“ vor sich hin murmelt, als ihm klar wird, dass er gleich mit einem Fleischermesser attackiert wird, suchen Musinowski und Czeremnych schon nach der Plastikflasche mit dem Kunstblut. Und während man noch der verlorenen Bildsprache der vorangegangenen Sequenz nachtrauert, wirkt es fast befreiend, wie unernst man hier die eigene Fiktion nimmt: Ganz im Sinne von Mörikes Text, worin sich der auktoriale Erzähler höflich von seinem Leser verabschiedet, wenden sich auch die Bühnendarsteller immer wieder ans Publikum und durchbrechen die Grenzen der Illusion.

Einzig der Text bleibt mit sperrigen Begriffen und verdrehten Sätze holprig. Im Original hängte Mörike seinem sprachlich verschnörkelten Märchen ein mehrseitiges Glossar an, das die antiquierten Dialektwörter zurück in ihre hochsprachliche Bedeutung setzt. Auf der Bühne hingegen bleiben die ungebräuchlichen Floskeln unsanft zwischen den Dialogen hängen. Auffangen kann sie höchstens der Zuschauer selbst. Statt bei der Decodierung unter die Arme zu greifen, beschränkt sich das Spiel mit Mörikes Formulierungskunst – sein Märchen neigt zum klangschönen, aber oft inhaltsarmen Fabulieren – oft auf Effekt-Gags. Das ist nicht gerade märchenhaft.