Auf dem Truppenübungsplatz Heuberg bei Stetten am kalten Markt simuliert das Ulmer Spezialkommando einen Auslandseinsatz.

Politik/Baden-Württemberg: Rüdiger Bäßler (rub)

Stetten am kalten Markt - Dies also ist Coastland. Über den Fichtenwipfeln hängen graue Schleier, nasser Schnee fegt in die Gesichter. Partisanenwetter. Der Schlamm steht knöchelhoch. Irgendwo draußen, vor den Armeelinien des kriegerischen Amberland, schleichen die bewaffneten radikalen Splittergruppen der Megs und der Clebs, nicht zu vergessen die Radikalökologen der Nefs. Die Ulmer Soldaten des Kommandos Operative Führung zeigen keine Angst. Sie sind blitzartig von Ulm aus hierher aufgebrochen, um die Ordnung in einer demilitarisierten Zone, die von Amberland angegriffen wurde, wiederherzustellen. Die ganze Nato – oder pathetischer: die gesamte westliche Welt – sieht auf diese Truppe. Planvoll führt sie nach und nach internationale Streitkräfte ins Krisengebiet, insgesamt 25 000 Soldaten.

 

Dies könnte auch ein Ort in der Ukraine sein, aber in Wahrheit handelt es sich um den meist schläfrig daliegenden Truppenübungsplatz Heuberg bei Stetten am kalten Markt. Dort läuft die Militärübung „United Endavour“, was so viel wie „gemeinsame Anstrengung“ bedeutet. Die Kälte und der Schlamm sind echt. Ein Mann im Tarnanzug lässt – das gehört zum ernsten Spiel – über noch funktionierende Fernsehsender eine englischsprachige Videobotschaft verbreiten, die sich an alle Aggressoren richtet: „Verlassen Sie sofort die demilitarisierte Zone! Wir haben den Willen und die Mittel, Sie notfalls gewaltsam zu vertreiben.“ Befehlshaber ist der Ulmer Generalleutnant Richard Roßmanith. Seine Truppe nennt er ein „Leuchtturmprojekt, auch für die deutsche Verteidigungspolitik“.

Im Juli 2013 ist das Ulmer Spezialkommando gegründet worden, eine 455 Soldaten starke, aus 16 Nationalitäten zusammengesetzte Einheit, die eine bisher einmalige Fähigkeit trainiert: Innerhalb von nur fünf Tagen kann sie auf einen EU- oder Nato-Beschluss hin an jeden Krisenherd der Welt reisen, um von einer Zeltstadt aus militärische Operationen zu planen. Egal in welcher Klimazone, unabhängig von intakten Straßen, Stromtrassen, Telefonmasten oder sauberen Wasserleitungen. Die Amerikaner, Franzosen oder Engländer verfügen selber über erprobte Einsatzplanungsoffiziere. Aber ein multinationales Kommando im Stand-by-Modus, die gepackten Koffer stets unterm Bett, das gibt es sonst nirgendwo. Von 2018 an, so die Hoffnung der Ulmer, wird ihnen die Nato tatsächlich die Regie in einem Ernstfall anvertrauen.

Die Mitte des Reichs

Generalleutnant Richard Roßmanith führt Journalisten, Militärattachés und Politiker in die Mitte seines Reichs. Das ist die mit Rechnern und Großbildleinwänden bestückte Operationszentrale, dem Newsroom eines Zeitungshauses nicht unähnlich. Hier laufen die neusten Nachrichten über die militärische Lage zusammen, über Angriffe, Verletzte, Waffensysteme. An einem runden Tisch kommen immer wieder Spezialisten zu Konferenzen zusammen: ein Mann fürs Nachrichtenwesen, je einer für die Luft-, Land- und Seestreitkräfte, ein Logistiker, ein Jurist, ein Arzt. Wie kann Verletzten geholfen werden? Ist ein Helikopter verfügbar? Dürfen gegnerische Soldaten gefangen genommen werden? Sind die Splittergruppen als Terroristen oder Separatisten einzustufen? Ist ein Hafen für Hilfsgüter befreundeter Nationen verfügbar? Die Arbeitssprache ist Englisch.

In Zeltwaben hinter dem Nachrichtenraum arbeiten weitere Nachrichtenzuträger. Ein Fernsehteam nutzt die Enge und fragt Roßmanith, wie es um die Ausrüstung seiner Truppe stehe. Der Generalleutnant guckt wenig amüsiert, aber natürlich ist er vorbereitet. Zweieinhalb Jahre habe er bei Auslandseinsätzen verbracht, antwortet der Kommandeur, während Henning Otte, verteidigungspolitischer Sprecher der CDU-Bundestagsfraktion, neben ihm steht. „Was wir in den Einsatz bringen wollten, haben wir auch geschafft. Ich habe in meinem Verantwortungsbereich eine vernünftige Ausstattung.“

Mögen auf manchem Fliegerhorst des Landes die Ersatzteile fehlen, dem Ulmer Kommando scheint es an kaum etwas zu mangeln. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich verpflichtet, ist zu erfahren, bis 2019 weitere 142 Millionen Euro in Kommunikations- und Computertechnik zu investieren – eine Antwort auf die Forderungen der Verbündeten nach mehr deutschem Engagement zur Bewältigung globaler Krisen. Der CDU-Politiker Henning Otte sagt später dennoch über das Große, Ganze: „Wir müssen den Beschaffungsprozess wesentlich verbessern.“ Schließlich sei die Bundeswehr aktuell an 18 Einsätzen im Ausland beteiligt.

Jammern gilt nicht

Denkbar in solchen kriegerischen Tagen, dass es dieses Kommando einmal mit der IS-Miliz zu tun bekommt. Der Vormarsch der Islamisten ist ein Thema, auch beim Generalleutnant. Er lehne es ab, die IS „als Terrorgruppe zu bezeichnen“, sagt er unterwegs. Ehemalige Militärführer Saddam Husseins, heißt es, hätten das Wort. Gerüchten zufolge zählt die Miliz mittlerweile 30 000 bis 40 000 Radikale. „Das hat aber auch einen Vorteil“, erklärt der Taktiker Roßmanith: „Sie bieten jetzt ein Ziel.“ Nicht zufällig entfalteten gerade in Kobane die Bombardements der Amerikaner immer mehr Wirkung.

Draußen vor der Zeltstadt surren 16 dieselbetriebene Stromaggregate, genug, um den täglichen Stromverbrauch in Höhe von 6000 Kilowattstunden zu decken. Die Heizung funktioniere gut, sagt Barbara Kammerbauer, Oberst im Dienst des Ulmer Kommandos. Ein Problem sei, dass sich der mit den Stiefeln hereingeschleppte Schlamm mit der Zeit in Staub verwandle – eine Last für Atemwege und Computertastaturen. Aber Jammern gilt für die Offizierin Barbara Kammerbauer nicht: Am Oberschenkel festgeschnallt führt sie eine Pistole, ein unübersehbarer Ausweis ihrer Verantwortungsstellung im Lager.

In hundert Stahlcontainern sind neben Zelten und Laptops auch Funktechnikanlagen, Werkzeuge, Waffen, Drainagerohre, Kabel, eine Wasseraufbereitungsanlage oder die Feldküche auf den Heuberg geliefert worden. Erstaunlich, wofür die leeren Container anschließend gut sind: In eine Reihe gestellt, bilden sie Schutz gegen Beschuss. Auf einen der Stahlquader ist ein Maschinengewehrposten zur Eigensicherung gepflanzt worden.

Eine gefahrvolle Aufgabe

Österreichische Soldaten bauen vor der Zeltstadt gerade einen sogenannten Kundus-Bunker. Dessen Inneres bildet ein Container mit Platz für bis zu 20 Schutzsuchende. Drum herum werden mit feinem Geröll gefüllte Drahtkörbe aufgetürmt. Bei einer Wandstärke von zwei Metern, so zeigte die Erfahrung, kann dieser oberirdische Bunker auch großen Granaten standhalten. Obendrauf werden Stahlträger geschweißt, sie halten weitere Steinkörbe zum Schutz vor Artilleriebeschuss. Hier in Stetten am kalten Markt, sagt ein österreichischer Offizier, habe sein Bundesheer zum ersten Mal die Gelegenheit, sich am Bau eines solchen Bunkers zu erproben.

Allein im Feindesland, das ist eine gefahrvolle Aufgabe. Sie kann fatal enden. Am Mittag, auf dem Weg zum Fleischeintopf in einer Baracke, lässt sich der Kommandeur Richard Roßmanith auf den 13. Juli 1995 ansprechen, dem Tag des Massakers von Srebrenica, bei dem mehr als 3000 muslimische Männer ermordet wurden. Schlecht ausgerüstete niederländische UN-Soldaten haben keinerlei Widerstand geleistet, als serbische Einheiten ihren Stützpunkt angriffen. Die wehrlosen Opfer wurden ihren Mördern übergeben. Ein Zivilgericht in Den Haag hat im Juli die Niederlande für das Massaker mitverantwortlich gemacht. „Ich habe auch niederländische Soldaten hier. Wir haben oft darüber gesprochen“, sagt Roßmanith. „Für die niederländischen Streitkräfte war das damals eine traumatische Entwicklung.“ Die Lehre müsse heißen, „nie wieder in solch eine Situation zu kommen“.

Zum Abend ist es auf dem Heuberg noch einmal kälter geworden. Der Übungstag neigt sich dem Ende zu, im warmen Soldatenheim wird aus Coastland wieder Stetten am kalten Markt. Die Berliner Zuschauer der Übung steigen in einen Helikopter, der sie zu einer Transall-Maschine auf dem Flughafen Friedrichshafen bringt. Die Transall sei immer noch eine gute Maschine, versichern die Presseoffiziere, auch wenn sie schlechtgeredet werde wie so vieles andere bei der Bundeswehr. Der Fotograf einer Nachrichtenagentur bearbeitet noch rasch seine besten Fotos. Eines zeigt einen schwer bewaffneten Infanteristen vor einem ausgedienten Militärlastwagen. Ein schöner Symbolschnappschuss. Bloß für diesmal passt er einfach nicht.