Das Recht hat die sonst üblichen Regeln ins Gegenteil verkehrt. Niemandem muss mehr bewiesen werden, dass er eine Urheberrechtsverletzung begangen hat. Jeder Besitzer eines Internetzugangs gilt als „Störer“, der im Ergebnis für alles haftet, was über diesen Zugang geschieht. Er haftet für seine Kinder. Und er ist zu Sicherungsmaßnahmen verpflichtet, die in der Praxis nur wenige anwenden, viele gar nicht kennen.

 

Es ist inzwischen teurer und folgenreicher beim illegalen Download erwischt zu werden als beim Diebstahl einer CD. Wer zum zweiten Mal ertappt wird, kann bei Verstößen im Internet ruiniert sein. Das ist so, weil die Verfolgung der Rechtsbrüche faktisch privatisiert worden ist. Die – sonst überforderte – staatliche Justiz hat sich zum Dienstleister der Industrie degradieren lassen. Die Bußen, die gezahlt werden müssen, sind keine staatliche Strafen, sondern Gelder, die an Private fließen. Die Risiken der abgepressten „Unterlassungserklärungen“, werden oft falsch eingeschätzt. Von Winkeladvokaten, die mehr bekommen als ein ehrbarer Strafverteidiger verdienen könnte, wird mit Druck und Nötigung gearbeitet. Nur wenige Fälle kommen vor Gericht.

Europa: Ein juristischer Pudding wird an die Wand genagelt

Der Industrie genügte die bisherige Praxis nicht. Bereits vor Jahren wurde das Modell einer schönen neuen Netz-Welt Orwell'scher Prägung entwickelt, in der die international tätigen Konzerne die Sache selbst regeln. Die Idee: Die Unternehmen, die Internet-Zugänge ermöglichen, Computerleistung oder Speicherplatz zur Verfügung stellen, soziale Netzwerke betreiben, sollten die Daten ihrer Kunden möglichst lückenlos filtern, mutmaßlich illegale Inhalte blocken und Sünder den Kollegen melden, die Urheberrechte gekauft hatten. Die Internet-Industrie wollte das freilich nicht.

Die Idee wurde in die Verhandlungen über das Urheberrechtspiraterie-Bekämpfungsabkommen Acta eingespeist. Es ist ein Vertrag vor allem zwischen den USA und Europa, der bindendes EU-Recht werden soll. Die Verhandlungen fanden im Geheimen statt, unter Ausschaltung demokratischer Institutionen und vor allem der Bürgergesellschaften. Die Vorschläge der Industrie wurden nicht einfach umgesetzt, sie wurden in den Verhandlungen weichgespült.

Die Urheber kommen heute weniger denn je in den vollen Schutz des Urheberrechts. Denn die meisten von ihnen verkaufen den entscheidenden Teil ihrer Rechte, nämlich die Nutzungsrechte sogleich an große Unternehmen. Die Interessen der Industrie sind nur zum Teil, oft zum kleineren Teil identisch mit denen der Urheber.

Einzelne Urheber, die Stars, können äußerst vorteilhafte Verträge abschließen, die Masse des Fußvolks lebt oft mit Knebelverträgen. Viele Urheber verzichten auf einen Teil dessen, was ihnen zustehen würde, weil sie wissen, sonst keine neuen Aufträge zu bekommen. Die Ära des Mäzenatentums ist von den Regeln der Globalisierung abgelöst worden. Die Industrie spricht im Namen der Urheber, kämpft aber für eigene Interessen.

Die Nutzer: Ihr Respekt vor geistigen Eigentum schwindet

Die Grenzen zwischen Mein und Dein waren und sind beim geistigen Eigentum nie so klar wie beim materiellen Besitz; die selbstverständliche Achtung vor fremdem Eigentum ist hier geringer. Das liegt zum Teil an objektiven Abgrenzungsproblemen: Jeder darf frei den neuesten Schlager nachsingen, bei der Weihnachtsfeier kommt es schon auf die Umstände an, beim öffentlichen Auftritt bedarf es der Genehmigung und des Entgelts. Wer ist sich dessen schon bewusst?

Vor allem aber werden geistige Werke ja gerade geschaffen, um in die Gesellschaft hinein zu wirken. Sie sind auf den gesellschaftlichen Diskurs angewiesen. Die gesellschaftliche Entwicklung wiederum hängt in besonderem Maße von der Nutzung geistigen Eigentums ab.

Ohne die Freiheit des Zitierens verstummt der Diskurs

Jedes Zitat ist ein kleiner geistiger Diebstahl. Ohne die Freiheit des Zitierens aber erlahmte die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung, ist wissenschaftlicher Fortschritt nicht denkbar. Diese Einsicht bestimmte das Recht von Anfang an. Doch die Grenzen verrutschen: Die Zitierfreiheit wird eingeschränkt. Vor Jahren erschienen in Deutschland noch Bücher, die nur aus Zitaten des politischen Gegners bestanden. Heute wird vor Gericht darum gestritten, in welchem Umfang aus den Feuilletons großer Zeitungen zitiert werden darf.

Für Bilder gab es nie eine ähnliche Zitierfreiheit. Alice Schwarzer hat es einst zu spüren bekommen. Sie veröffentlichte in „Emma“ eine Philippika gegen die ihrer Meinung nach sexistischen Bilder des Star-Fotografen Helmut Newton. Ohne die Bild-Zitate, die sie abdruckte, wäre ihre Kritik kaum verständlich gewesen. Sie wollte mit der Ästhetik von Newtons Frauen keinen Gewinn machen. Trotzdem musste sie auf dessen Klage hin zahlen, vordergründig, weil es zu viele Fotos waren. Heute werden arglose Menschen für briefmarkengroße Fotos auf ihrer Homepage in Regress genommen.

Einst waren es Einzelfälle, die zum Streit führten. Im Alltag, nicht nach dem Buchstaben des Gesetzes, gab es kaum Probleme. Das lag daran, dass sich niemand für die Graubereiche, für die kleinen Übertretungen des Urheberrechts ernsthaft interessierte. Sie spielten wirtschaftlich keine Rolle. Den Beteiligten war klar, dass die kleinen Sünden das allgemeine Interesse an den Werken sogar noch steigerte.

Vor wenigen Jahren wäre niemand auf die Idee gekommen, an Kindergärten Fragebögen zu versenden, welche Lieder dort kopiert werden, damit die Kinder gemeinsam singen können. Inzwischen will eine Verwertungsgesellschaft auch dafür Geld.

Der Großzügigkeit war auch deshalb so einfach, weil der geistige Diebstahl stets an Gegenstände gebunden war: Wer ihn begehen wollte, musste zugleich ein Buch, eine Schallplatte, eine Videokassette klauen. Davor schreckten die meisten zurück.

Das Internet: Das Medium senkt das Unrechtsbewusstsein

Dieser Aspekt veränderte sich grundsätzlich mit der Verbreitung des Internets. Das geistige Eigentum anderer wurde zu Bits, die man problemlos herunterladen oder auch hochladen konnte. Die Entfernung der Täter zu den Opfern machte, wie stets in solchen Fällen, die Tat einfach. Das kollektive Unrechtsbewusstsein schwand und die Urheberrechts-Piraterie wurde zu einem Volkssport wie einst die Steuerhinterziehung. Wer gewitzt war, tat es. Tatsächlich tendierte das Risiko erwischt zu werden in den ersten Jahren gegen Null. Hinzu kommt, dass auch hier die Grenzen verschwimmen: Weshalb soll man für ein Standard-Rechner-Programm mit offiziell drei Lizenzen 90 Euro zahlen, wenn es durch drei geteilt nur 30 Euro sind? Das Teilen mit Freunden ist freilich illegal, weil die Lizenzen nur in einem Haushalt gelten. Wer hält sich daran?

Das schwindende Unrechtsbewusstsein wurde ideologisch überhöht durch die Überzeugung eines Teils der Netz-Gemeinde, im Internet werde nichts gezahlt, die traditionellen Regeln des Rechts könnten durch die Macht des Faktischen ausgehebelt werden. Das konnte nicht gut gehen.

Die Juristen: Sie freuen sich über eine Gelddruckmaschine

Das Imperium hat zurückgeschlagen. Man muss sich an die Herausforderung und an den wirtschaftlichen Schaden, der vor allem den Musik- und Filmkonzernen entstanden ist, schon erinnern, um die Maßlosigkeit zu begreifen, mit der die Industrie, aber auch die Justiz reagiert haben.

Das Internet, dieser nur scheinbar rechtlose Raum, wird inzwischen besser überwacht als die meisten Läden. Von der Industrie beauftragte Firmen scannen automatisiert und systematisch die Eingänge der einschlägigen Tauschbörsen und Netzwerke. Die Justiz unterstützt sie, indem auf Antrag massenhaft die IP-Adressen, im Kern die Personalien, potenzieller Übeltäter ermittelt werden.

In diesem Überwachungsnetz bleiben massenhaft und fast ausschließlich die Kleinen hängen, teils jene, die bewusst einen Film illegal herunterladen, vor allem auch jene, die gar nichts Böses wollen, sich aber im Bagatellbereich des extrem komplizierten und inzwischen extrem scharfen Urheberrechts verheddern – oft genug beim Basteln einer eigenen Homepage. So haben auch führende CDU-Politiker auf ihrer Homepage schon Urheberrechtsverletzungen begangen. Die großen Übeltäter, die vom Ausland her Millionen machen, werden in Ausnahmefällen und auf andere Weise gefasst.

Jeder Besitzer eines Internetzugangs muss haften

Das Recht hat die sonst üblichen Regeln ins Gegenteil verkehrt. Niemandem muss mehr bewiesen werden, dass er eine Urheberrechtsverletzung begangen hat. Jeder Besitzer eines Internetzugangs gilt als „Störer“, der im Ergebnis für alles haftet, was über diesen Zugang geschieht. Er haftet für seine Kinder. Und er ist zu Sicherungsmaßnahmen verpflichtet, die in der Praxis nur wenige anwenden, viele gar nicht kennen.

Es ist inzwischen teurer und folgenreicher beim illegalen Download erwischt zu werden als beim Diebstahl einer CD. Wer zum zweiten Mal ertappt wird, kann bei Verstößen im Internet ruiniert sein. Das ist so, weil die Verfolgung der Rechtsbrüche faktisch privatisiert worden ist. Die – sonst überforderte – staatliche Justiz hat sich zum Dienstleister der Industrie degradieren lassen. Die Bußen, die gezahlt werden müssen, sind keine staatliche Strafen, sondern Gelder, die an Private fließen. Die Risiken der abgepressten „Unterlassungserklärungen“, werden oft falsch eingeschätzt. Von Winkeladvokaten, die mehr bekommen als ein ehrbarer Strafverteidiger verdienen könnte, wird mit Druck und Nötigung gearbeitet. Nur wenige Fälle kommen vor Gericht.

Europa: Ein juristischer Pudding wird an die Wand genagelt

Der Industrie genügte die bisherige Praxis nicht. Bereits vor Jahren wurde das Modell einer schönen neuen Netz-Welt Orwell'scher Prägung entwickelt, in der die international tätigen Konzerne die Sache selbst regeln. Die Idee: Die Unternehmen, die Internet-Zugänge ermöglichen, Computerleistung oder Speicherplatz zur Verfügung stellen, soziale Netzwerke betreiben, sollten die Daten ihrer Kunden möglichst lückenlos filtern, mutmaßlich illegale Inhalte blocken und Sünder den Kollegen melden, die Urheberrechte gekauft hatten. Die Internet-Industrie wollte das freilich nicht.

Die Idee wurde in die Verhandlungen über das Urheberrechtspiraterie-Bekämpfungsabkommen Acta eingespeist. Es ist ein Vertrag vor allem zwischen den USA und Europa, der bindendes EU-Recht werden soll. Die Verhandlungen fanden im Geheimen statt, unter Ausschaltung demokratischer Institutionen und vor allem der Bürgergesellschaften. Die Vorschläge der Industrie wurden nicht einfach umgesetzt, sie wurden in den Verhandlungen weichgespült.

Das Ergebnis ist ein typisches Beispiel für EU-Recht: Der Text ist eine Ansammlung äußerst vager, auslegungsfähiger, auch unverständlicher Vorschriften – umgeben von einer Wolke wohlklingender Beteuerungen. Aber er atmet noch den alten Geist.

Am Mittwoch gab die EU-Kommission bekannt, Acta dem Europäischen Gerichtshof zur Überprüfung vorlegen zu wollen. Es soll geklärt werden, ob der Vertrag Grundrechte verletze. Die Verteidiger sagen, in Acta stehe nichts Böses und nichts Neues. Dann wäre der Vertrag inhaltsleer und überflüssig. Die Kritiker vermuten das Schlimmste, können aber das Wenigste aus dem Text belegen. Es kommt drauf an, was man draus macht. Der Konflikts geht aber tiefer. Die Kritiker aus der Netzgemeinde wollen das traditionelle Urheberrecht öffnen, der neuen Zeit anpassen. Was immer Acta sonst ist, zumindest zementiert es das traditionelle Recht mit all seinen kleinen Gemeinheiten. Das ist der Kern.