Reportage: Robin Szuttor (szu)
Was Gefängnis wirklich bedeutet, erfährt sie in Hoheneck. Bei der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in Berlin spricht man schon allein wegen der sanitären Verhältnisse oder der ständigen Kälte in den Burggemäuern vom "härtesten Frauengefängnis in der DDR".

Irgendwann denkt man nur noch ans Sterben


Manuela Polaszczyk nennt die Haftanstalt wahlweise "Hölle" oder "Haus des Grauens". Wie ihr erging es vielen anderen in Hoheneck. Was sie beschreibt, deckt sich mit Berichten ehemaliger Polithäftlinge, die sich mittlerweile im "Frauenkreis der ehemaligen Hoheneckerinnen" oder beim "Stammtisch der Hoheneckerinnen" zusammengeschlossen haben. Die Absonderungszellen: "Man merkte den Leuten an, wenn sie aus der teils wochenlangen Einzelhaft kamen. Die konnten in der ersten Zeit gar nicht mehr flüssig sprechen", sagt Manuela Polaszczyk.

Die Arrestzellen: "Man bekam einen dünnen Overall an, die Matratze und die Decke wurden tagsüber herausgenommen. Man saß dann bis zum Abend zusammengekauert auf dem Tisch, da war es wärmer als auf der Eisenpritsche oder auf dem Boden." Die Duschstrafe: "Die Wärterinnen kamen, wenn alle in ihren Zellen waren. Dann hieß es nur: ,Mitkommen'. Ging es nach links, wusste ich schon Bescheid. Sie schraubten die Armaturen ab und stellten mich unter die Dusche - mal mit, mal ohne Kleider. Dann wurde ich angekettet und das Kaltwasser angestellt."

Manuela Polaszczyk hält es bei der Schilderung nicht mehr auf dem Sofa, sie erzählt im Stehen weiter. "Am Anfang stehst du noch. Dann sinkst du immer mehr in dich zusammen. Zuerst denkst du: irgendwann muss es ja wieder aufhören. Nach einer Weile denkst du: irgendwann darfst du ja sterben. Dann denkst du irgendwann überhaupt nichts mehr. Wenn sie fertig mit dir sind, ist alles taub, außen und innen. Du kannst nur noch zurück in die Zelle schlurfen."

Aber da sind auch die alltäglichen Demütigungen: Wärterinnen, die sich über ihre Figur oder ihre Haare lustig machen. Die ihr sagen, sie bekomme den Brief vom Vater erst, wenn sie sich gebessert habe. Die sie mit dem Esslöffel das Bohnerwachs von den Böden kratzen lassen. Eine Mitgefangene bastelt aus Kleiderresten eine Blume. Die Wärterin wirft sie weg. "Alles Schöne hatte in Hoheneck keinen Platz", sagt Manuela Polaszczyk. Manchmal steht sie am Fenstergitter und blickt auf die Landschaft. "Es klingt abgedroschen, aber ich wünschte mir da drin nichts sehnlicher, als ein Vogel zu sein und wegfliegen zu können."

"Ich ließ mich nicht kleinkriegen"


Ihre Stiefmutter, die ihr damals näher steht als ihre leibliche Mutter, besucht sie dreimal im Gefängnis. "Das waren Lichtblicke, auch wenn uns vorher eingeschärft wurde, über was wir uns auf keinen Fall unterhalten dürfen." Viele Gesprächsthemen blieben da nicht mehr übrig.

Eine Wärterin habe es in Hoheneck gegeben, die sei menschlich gewesen, sagt Manuela Polaszczyk. "Eine andere hatte es auf mich abgesehen, die wartete nur auf einen Grund, mich wieder fertigzumachen." Und einen Grund fand sie oft. "Ich habe auch in Hoheneck nicht meinen Mund gehalten", sagt sie. Das ist im Rückblick ein Trost: "dass sie mich nicht kleinkriegten". Und doch hat die Wärterin bis heute einen festen Platz in ihren Alpträumen. Manches aus der Zeit in Hoheneck, sagt Manuela Polaszczyk, könne sie immer noch nicht erzählen.

Eines Tages sagt man ihr plötzlich, sie solle ihre Sachen packen. Sie darf raus. Über Wolfgang Vogel, Anwalt in Ostberlin und Unterhändler der DDR, ist ihr Freikauf ausgehandelt worden. Eine ganze Busladung geht an dem Tag Richtung Westen. Es ist der 11. September 1985, als der Bus vor der Grenze steht. Manuela Polaszczyk ist nicht gerade in blendender Verfassung: Chronische Kopf-, Rücken- und Magenschmerzen. Beim Atmen pfeift ihre Lunge. Ein paar Zähne sind ausgefallen, sie sieht nur verschwommen. Aber hinter dem Schlagbaum ist das alles für kurze Zeit vergessen. Der ganze Bus jubelt und weint.

In den ersten Wochen traut sich Manuela Polaszczyk kaum unter Menschen. Es ist nicht einfach in der neuen Welt. Ihr Vater hilft ihr. Sie schweißt Lastwagenplanen und Bierzelte zusammen, arbeitet als Zimmermädchen in Hotels, verliert ihren Job - "weil ich nie lachte". Sie macht eine Umschulung zur Industriekauffrau. Dann erfährt sie, was mit ihr seit einiger Zeit nicht stimmt: sie hat multiple Sklerose.

Ihr Vater hatte sie bespitzelt


Auch durch die Krankheit lernt sie langsam, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, die sie bisher verdrängte. Worüber sie früher "nur Rotz und Wasser heulte", das schreibt sie nun auf. Tage- und nächtelang, Wochen und Monate. Je mehr sie zu Papier bringt, desto mehr Fragen tauchen auf. Sie beschließt, ihre Stasiakten anzufordern.

An Heiligabend 2007 kommen die Kopien an. 400 Seiten. Sie sitzt auf ihrer Polstergarnitur und begreift mit jedem Blatt, das sie in die Hand nimmt, warum die Frau von der Birthler-Behörde ihr empfohlen hat, die Akten lieber erst nach Weihnachten zu studieren. Manuela Polaszczyk liest den Namen ihrer Stiefmutter. Sie war Stasispitzel. Wort für Wort gab sie weiter, was ihre Stieftochter zu Hause erzählte oder bei Telefongesprächen sagte.

Und dann kommt es ganz dick. Sie liest den Namen ihres Vaters. Er auch. Als Inoffizieller Mitarbeiter Sicherheit (IMS) horchte er seine Tochter jahrelang über Freunde und Bekannte aus, vereitelte deren Flucht, brachte manche von ihnen in das Gefängnis. Manuela Polaszczyk liest privateste Dinge über sich in den Akten. Ereignisse, an die sie sich gar nicht mehr erinnert, werden plötzlich wieder gegenwärtig. Das Gedächtnis der Stasi vergisst nichts. Seit sie fünfzehn war, dafür sorgte ihr Vater, führte sie ein gläsernes Leben.

"Er hat mich verkauft", sagt Manuela Polaszczyk und zieht einige Seiten aus einem Ordner hervor. Absender: das Amt für Staatssicherheit. Zweck: mal 50, mal 100 Mark Belohnung "für gute operative Arbeit". Quittiert mit der Unterschrift des Vaters. "Das ist so ein tiefer Schmerz, tiefer geht es nicht", sagt Manuela Polaszczyk. Sie sucht bis heute nach einer Erklärung.

Es gehe ihr inzwischen eigentlich ganz gut, sagt sie. "Aber ich weiß nicht, ob ich je wieder einem Menschen wirklich vertrauen kann. Ob ich je verstehe, was er mir angetan hat." Fragen kann Manuela Polaszczyk ihren Vater nicht mehr. Er ist gestorben, bevor sie ihre Akte öffnete.