Politik ist uncool, es ändert sich ja doch nichts, das Internet ist viel demokratischer, jede Wahl nur eine Qual? Zum Abschluss unserer Serie löschen wir allerlei Müll.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Die Qual der Wahl: Man mag diese Phrase wirklich nicht mehr hören – was soll denn das bitte schön in diesem Land genau sein, die Qual an der Wahl? Ja, wir wissen, auch die geschätzten Kollegen aus dem StZ-Büro in Berlin haben sich dieses Motto zur Überschrift ihres Wahlkampf-Blogs im Internet erwählt. Aber, pardon, aussagen tut es eigentlich: null. Damals in der DDR, da war die Wahl eine Qual. Da machte sich schon verdächtig, wer überhaupt die Wahlkabine aufsuchte, anstatt die SED-Einheitsliste ohne jede Änderung sogleich und unter Jubel in die Wahlurne zu werfen (in der „Volksdemokratie“ zählte nur dies als unverdächtige Jastimme). Sehr viel Qual erblicken wir auch jeden Tag auf den Bildern aus Syrien oder Ägypten. Vielleicht wäre es zu so viel Qual nie gekommen, wenn die Syrer oder Ägypter rechtzeitig die Chance zu einer echten Wahl gehabt hätten.

 

Aber was bitte schön ist die Qual an der Bundestagswahl? Das Aufsuchen des Wahllokals? Die Handhabung eines Kugelschreibers? Das kleine Dankeschön beim Rausgehen an die Wahlhelfer? Verdrehte Welt: Millionen Menschen auf der ganzen Welt würden im Tausch für diese schier unmenschlichen Anstrengungen der Bundesbürger ihr Leben einsetzen. Und viele von ihnen tun es sogar. Auch am Sonntag.

Parlamente haben doch eh nichts zu bestimmen. Es ist noch keine vier Wochen her, da haben die Parlamentarier des britischen Unterhauses völlig unvermutet, vielleicht sogar völlig ungeplant Geschichte geschrieben. Ihr Premierminister wollte britische Bomben auf Syrien abwerfen, eine Mehrheit der Abgeordneten – auch solche aus seiner eigenen Partei – haben es ihm verboten. Wenn sie dies nicht getan hätten, wären sich der britische Premier und der US-Präsident vermutlich schnell über einen Einsatztermin einig geworden. So mussten auch die USA zurück in die Debatte. Und prompt entwickelt sich die Chance zu einer neuen diplomatischen Initiative in Syrien. Gut, ob diese Initiative Erfolg haben wird, kann derzeit keiner garantieren. Aber ohne das Votum des britischen Unterhauses hätte es gar nicht mehr die Zeit für eine neue Verhandlung gegeben. Das ist sie, die Macht eines Parlamentes.

Zum Glück wird der Alltag des Bundestages nicht ständig von Entscheidungen solcher Tragweite geprägt. Aber wer glaubt, die Abgeordneten würden sich beispielsweise den Einsatz deutscher Soldaten irgendwo in der Welt leichtmachen, hat noch nie die Debatten darüber ernsthaft verfolgt. Es gibt keine wichtige Frage, über die das deutsche Parlament nicht debattieren könnte – und Entscheidungen fällen von ähnlicher Tragweite wie in London.