Die Israelkorrespondentin der Stuttgarter Zeitung, Inge Günther, beschreibt, wie sie früher mit Daniel Cohn-Bendit problemlos und skandalfrei in einer Krabbelgruppe arbeitete: „Die Kids mochten ihn.“

Stuttgart - Zugegeben, ich bin befangen. Mir fällt schwer, den Skandal um pädophile Fantasien ganz ernst zu nehmen, die Daniel Cohn-Bendit in jüngeren Jahren aus Lust an der Provokation in Umlauf gebracht hat. Sicher, was er zu dem Thema 1975 in „Der große Basar“ geschrieben und 1982 in einer französischen Talkshow gesagt hat, war unüberlegt und dümmlich. Aber reden und machen sind nicht dasselbe. Tatsächlich hat Cohn-Bendit so wenig mit einem Kinderschänder gemein wie Angela Merkel mit einer Nachtklubtänzerin. Nämlich rein gar nichts. Was mir immer auffiel, war sein umwerfendes Talent im Umgang mit Kindern. Ich sage das, weil ich in den frühen achtziger Jahren zusammen mit Dany Cohn-Bendit in einer Krabbelstube der alternativen Szene in Frankfurt gearbeitet habe. Es war eine Zeit, in der wir zudem in einer großen Wohngemeinschaft lebten, zu der ebenfalls Kinder gehörten.

 

Als wir unsere Krabbelstube im fünften Stock der Freien Schule (die Räume dort waren gemietet, wir waren eine unabhängige Einrichtung) aufmachten, fingen die Jüngsten der acht uns anvertrauten Kleinkinder gerade erst zu laufen an. Sie von morgens früh bis spät mittags zu versorgen, mit ihnen zu spielen, sie auf den Arm zu nehmen, wenn sie müde oder quengelig wurden, und ihre Windeln zu wechseln, erforderte von uns beiden vollen Einsatz. Nie gab es dabei irgendwelche Anzeichen für Übergriffe, ob sexueller oder sonstiger Art.

Die Kinder freuten sich riesig, den Dany zu sehen

Nie äußerten Eltern auch nur den geringsten Verdacht, dass Cohn-Bendit ihre Sprösslinge missbrauche. Auch einige ältere Geschwister, die Dany noch als Bezugsperson aus der Uni-Kita kannten, kamen ab und an mit und freuten sich riesig, ihn wieder zu sehen. Die Kids mochten Dany. Weil er den Clown, den Löwen oder den Bären für sie spielte. Weil er nicht nur lustig, sondern auch geduldig war. Weil er voller Elan und guter Laune den bunten Leiterwagen zog, mit dem wir die Kleinen bei schönem Wetter zum Spielplatz transportierten. Weil er meist schlichten konnte, wenn zwei sich im Streit um das rote Plastikauto gegenseitig mit Bauklötzchen bewarfen. Weil er eine enorme Ruhe ausstrahlte, wenn alle durcheinander schrien, was vor allem ich, als Kollegin, zu schätzen lernte. Dany war der große Papa, auf den alle hörten. Weil er eine eigene Autorität besaß, ohne autoritär zu sein. Die Welt wäre kinderfreundlicher, gäbe es mehr Männer wie ihn. Das macht die Absurdität der gegen Cohn-Bendit erhobenen Vorwürfe aus.

Natürlich war die alternative, aus der 68er Bewegung resultierende Sponti-Szene keine reine Kinderidylle. Männer wie Frauen muteten sich in ihren Beziehungen oft viel zu viel zu und den Kindern ungewollt auch. Konventionen in Frage zu stellen war „in“. Man machte sich eine Menge vor, dass jeder tun und lassen könne, was er wolle. Man war bisweilen in autoritärer Weise anti-autoritär. Verblüfft reagierten wir nur, wenn ein Wohngemeinschaftskind den Wunsch nach Verhältnissen äußerte, die uns als kleinbürgerlich erschienen – nach einem Leben in der Kleinfamilie. Es stimmt. „Was verboten ist, macht uns gerade scharf“ lautete ein Slogan der Zeit. Nur, Pädophilie gehörte real besehen nicht dazu. Sich an Kindern sexuell zu vergreifen war selbst unter ungezügelt auftretenden Frankfurter Spontis tabu. Ein solcher Missbrauch wäre auch kaum unter der Decke geblieben. In der linken Szene – so viel dort über Selbstverwirklichung und Selbstbefreiung geschwafelt wurde – herrschte in Wahrheit enge soziale Kontrolle.

Umso unglaublicher erscheint in der Rückschau, warum kaum einer an der Beschreibung erotischer Kinderspiele Anstoß nahm, als das Buch „Der große Basar“ erschien. Auch ich muss seinerzeit darüber hinweg gelesen haben, ohne mir weiter Gedanken zu machen. Vielleicht, so überlege ich heute, gerade deswegen, weil der wirkliche Dany Cohn-Bendit, der beim WG-Abendessen über Erziehungsfragen genauso leidenschaftlich diskutieren konnte wie über große Politik, als Anwalt der Kinder und ihrer Rechte so überzeugend war. Für mich stimmt das noch heute.