Wer diese Gesellschaft positiv verändern will, muss die kulturelle Bildung als Schlüssel für vieles erkennen, schreibt der StZ-Autor Tim Schleider.

Kultur: Tim Schleider (schl)
Stuttgart - Völlig zu Recht wird in Debatten über die Zukunft unserer Gesellschaft die Bildung als Schlüsselqualifikation für Verbesserungen vielerlei Art benannt. Erstaunlich aber ist, wie selten die Talkshows auf die kulturelle Bildung kommen - dabei ist es letztlich erst sie, die die Früchte wachsender Bildung gesellschaftskompatibel macht. Oder anders gesagt: ohne ausgeprägte kulturelle Bildung ist recht mühelos eine Gesellschaft vorstellbar, in der eine Ansammlung hochgebildeter Fachidioten zu einem derart unwürdigen Zusammenleben führt, dass man gern eine Existenz unter Ungebildeten vorzieht.

Keine Angst, jetzt folgt kein Versuch, "Kultur" zu definieren. Es reicht vollkommen die Ahnung, dass all die Fragen, wie wir uns als Individuum und als Teil des Ganzen verstehen, welche Werte wir für wichtig halten, wie wir mit konkurrierenden Werten umgehen, welchen Austausch und welche Auseinandersetzung mit anderen wir pflegen, über welche Sprachen im weitesten Sinne wir dabei verfügen, welche Geschichten wir uns erzählen, welche Bilder uns anspornen, welche Ziele wir uns überhaupt setzen, wie wir den Weg dorthin bestimmen und auf welchen Tabus wir bei alledem bestehen - kurzum: dass alles, was eine Gesellschaft keineswegs auf die Schnelle friedlich, aber überhaupt erst mal denk- und handelbar macht, Aspekte von Kultur sind. "Kulturelle Bildung" heißt dann der Schlüssel, um daran teilzuhaben. Kleiner ist es allerdings nicht zu haben.

Ein Kunstwerk muss weder simpel noch sofort verständlich sein


"Der wahre Sinn der Kunst liegt nicht darin, schöne Objekte zu schaffen", schreibt der US-Autor Paul Auster und benennt sogleich einmal ein fatales Missverständnis vieler durchaus gebildeter Menschen. "Er ist vielmehr eine Methode, um zu verstehen. Ein Weg, die Welt zu durchdringen und den eigenen Platz zu finden." Besser kann man nicht auf den Punkt bringen, worin das Faszinierende menschlicher Kunst besteht - seit ihren allerersten, uns überlieferten Zeugnissen, den Höhlenmalereien und Kleinfiguren der Jungsteinzeit. Sie sind weder schöner Schein noch Selbstzweck. Sie sind schlicht und einfach Mittel zum besseren Leben. Kultur ist der Weg. Kunst ist die Sprache.

Nun sind Klagen über den womöglich dramatischen Verlust kultureller Bildung nicht neu und schon gar nicht originell. Die Wehklagen über einen Verfall kulturellen Grundwissens, die Angst vor der alles zermahlenden Wucht einer angeblich immer flacher werdenden Massenkultur ziehen sich von heute zurück durch viele Jahrzehnte. Man muss solche Prophezeiungen nur begrenzt ernst nehmen. Zum Ersten treffen sie nie im prophezeiten Umfang ein. Zum Zweiten verkennen sie, wie viel produktives Potenzial in der Auseinandersetzung mit Zeit und Gesellschaft häufig just in der Massenkultur steckt. Und zum Dritten werden sie auch zumeist gar nicht aus Sorge um das Wohl der Masse ausgesprochen, sondern um sich wirkungsvoll als kleinerer Kreis der Eingeweihten einigeln und abgrenzen zu können.