Woran bemisst sich eigentlich der schöpferische Akt eines Schriftstellers, Malers oder Musikers? Mancher Pirat meint, mit einem Einfall sei es schon getan, weswegen dieser auch nicht honoriert werden müsse. Das ist nicht richtig.

Stuttgart - In seiner historischen Miniatur „Genie einer Nacht“ erzählt Stefan Zweig, wie der junge Gardehauptmann Claude Joseph Rouget de Lisle in der Nacht vom 25. auf den 26. April 1792 von einem Schaffensanfall geschüttelt wird. „Allons enfants de la patrie / Le jour de gloire est arrivé!“, kritzelt der junge Offizier wie im Rausch nieder. So entsteht in dieser nächtlichen Stunde die spätere Nationalhymne Frankreichs, die Marseillaise. „Der Genius der Stunde“, schwärmt Zweig, habe „für diese eine Nacht Hausung genommen in seinem sterblichen Leib“.

 

Folgt man der Imagination des Schriftstellers, war die Marseillaise fertig, sobald sich der Genius in dieser Nacht ausgeschüttelt hatte. Aber musste sich Rouget de Lisle am nächsten Morgen nicht doch nochmals hinsetzen, um den ersten Entwurf zu überarbeiten? Musste er nicht vielleicht mehrere Varianten ausprobieren, die Hälfte seiner Zeilen verwerfen, weil sie nicht so klangen, wie er es sich vorgestellt hatte? Folgte auf den großen Einfall keine Phase mühsamer Feinarbeit?

Sternstunden der Menschheit

In Zweigs 1927 erschienenem Werk klingt die romantische Idee nach, die im 19. Jahrhundert die Vorstellung der Gesellschaft vom künstlerischen Schaffen geprägt hat. „Kein Künstler ist während der ganzen vierundzwanzig Stunden seines täglichen Tages ununterbrochen Künstler; alles Wesentliche, alles Dauernde, das ihm gelingt, geschieht immer nur in den wenigen und seltenen Augenblicken der Inspiration“, formuliert Stefan Zweig im Vorwort zu seinen „Sternstunden der Menschheit“, zu denen er auch jene Nacht des Claude Joseph Rouget de Lisle zählt.

Zweig wusste als erfahrener Autor natürlich, dass Schreiben harte Arbeit ist. Dennoch hat er am Mythos mitgearbeitet, weil sich der Künstler auf diese Weise am besten von gewöhnlichen Menschen abheben ließ. Zum Mythos gehört zudem, dass der Künstler von seinem Schaffens- und Mitteilungsdrang so getrieben werde, dass er wie Carl Spitzwegs „Armer Poet“ auch widrigste Lebensumstände zu ertragen vermag. Heute fliegt dieses romantische Künstlerbild den Kreativen um die Ohren. Anhänger und Funktionäre der Piratenpartei, einige Blogger und andere Unterminierer des Urheberrechts machen es sich für ihre Interessen zunutze. Dabei bieten sie zwei Argumente auf.

Erstens seien Künstler und andere kreativ Tätige anders zu behandeln als ein Steuerberater, ein Industriekaufmann oder jemand, der bei Bosch am Band steht; Menschen also, die ihre Tätigkeit nur ausüben, um ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Niemand käme auf die Idee, einem Steuerberater zu empfehlen, sein Brot mit dem Schreiben von Romanen zu verdienen, damit er sich das Hobby der Steuerberatung leisten könne. Umgekehrt findet sich das Argument aber sehr wohl in der Diskussion der Internetgemeinde über den Wert der Arbeit von Urhebern.

Das Problem der Selbstwahrnehmung

Zweitens sei in den Zeiten des Internets gleichsam jeder ein Künstler und Kreativer, weil er die Ergebnisse seines kreativen Schaffens ohne Probleme öffentlich machen könne. „Irgendwer macht immer Kunst“, meint zum Beispiel der Blogger Michael Seemann. In einer für die Internetdiskussion typischen Verengung auf das Musikgeschäft argumentieren Blogger und Forumsdiskutanten, mit Youtube habe jede Hinterhof-Band eine Plattform gefunden, um sich einem breiten Publikum zu präsentieren. Damit wird die Qualitätsdiskussion über kreative Arbeit ausgeblendet und auf die Frage des Zugangs zur Öffentlichkeit verkürzt. Man muss nur eine Folge der Castingshow „Deutschland sucht den Superstar“ gesehen haben, um zu erkennen, dass eine solche Verengung Unsinn ist.

Ähnliches gilt für andere Bereiche: Bei 95 von hundert Romanen, die im Selbstverlag erschienen sind, stehen dem Leser die Haare zu Berge angesichts der erzählerischen und stilistischen Unzulänglichkeiten. Dabei geht es nicht nur um Talentlosigkeit, die sich in vielen Fällen mit einer gewaltigen Kluft zwischen Fremdwahrnehmung und Selbstwahrnehmung paart. Denn zwischen vielen Stümpern finden sich durchaus zahlreiche Talente. Aber Talent allein reicht nicht für den kreativen Prozess.

Talent muss ausgebildet werden

Eine schöne Stimme, eine Begabung fürs Geigen- oder Klavierspielen muss ausgebildet und trainiert werden. Dafür sind viele Stunden notwendig. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass sich herausragende Musiker von ihren mittelmäßigen Kollegen ganz wesentlich in der Zahl ihrer Übungsstunden unterscheiden. Sicherlich machen viele Stunden des Übens aus einem unbegabten Musiker kein Genie. Aber ohne Üben, also ohne zeitfressende Arbeit, wird aus einem Talent kein herausragender Musiker.

Ebenso führt eine Begabung zum Schreiben nur dann zu einem guten Roman, wenn der Autor am Text immer und immer wieder arbeitet, wenn er Sätze, Absätze, ganze Kapitel mehrfach prüft und vieles wieder verwirft. Die meisten Schriftsteller schreiben mehrere Jahre an ihren Romanen. „Genie ist ein Prozent Inspiration und neunundneunzig Prozent Transpiration“, lautet ein berühmtes Diktum von Thomas Alvar Edison.

Erst vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum sich viele Kreative von der gegenwärtigen Diskussion über das Urheberrecht so angegriffen fühlen. Sie haben das Gefühl, dass die fröhlichen Anarchisten des Internets das Ausmaß an Arbeit nicht anerkennen, das hinter ihren kreativen Produkten steht. In einem Internetforum meinte kürzlich ein Teilnehmer, Musiker sollten gefälligst auf die Einnahmen aus den Verwertungsrechten verzichten und nur noch für „ehrliche Arbeit“, zum Beispiel Konzerte, bezahlt werden.

Bezahlung als gesellschaftliche Anerkennung

Dabei geht es den Kreativen nicht allein um das das Geld aus den Verwertungsrechten an ihren Werken. Davon können zu Beispiel die meisten ernst zu nehmenden Schriftsteller ohnehin nicht leben. Sie setzen zusätzlich auf Stipendien, Lesungen und publizistische Tätigkeiten. Der Akt der Bezahlung ist für Kreative vielmehr auch eine gesellschaftliche Anerkennung, dass kreative Arbeit ebenso behandelt werden soll wie Steuerberatung oder eine Schicht beim Daimler am Band.

Wer als Konsument Wert darauf legt, dass Kunst und Kreativität mehr sein sollen als das unfertige Produkt eines nächtlichen Schüttelfrosts, darf den Kreativen diese Anerkennung nicht verweigern – und muss bezahlen. Es gilt das alte Motto der Gewerkschaften: Gutes Geld für gute Arbeit.