Nicht nur in der EU: Seit vielen Jahren versprechen die Parteien, unnütze Bürokratie abzubauen. Doch der Teufel steckt hier im Detail – und auch im Selbstbewusstsein vieler Beamten.

Stuttgart - Bürokratie ist das, was übrig bleibt, wenn alles andere untergeht. Tatsächlich ist diese Bürokratie zählebig, und ihre ersten Spuren finden sich schon in den alten Reichen. Sie entsteht überall dort, wo Menschen zusammenrücken und sich Systeme ausdifferenzieren. Das spricht zugleich für ihre Notwendigkeit: Politik kann ohne Bürokratie nicht funktionieren. Nach Max Webers berühmtem Diktum ist politische Herrschaft in erster Linie Herrschaft der Verwaltung im Alltag. Bürokratie hat eine dienende Funktion und vorgegebene Grenzen zu beachten. Greift sie jedoch darüber hinaus, kann sie zu einem freiheitsfeindlichen Machtfaktor werden, der eine eigene Ideologie entwickelt.

 

Der Rektor der Reichsuniversität Straßburg sagte 1891: „Unsere Beamten werden sich nicht mehr das Heft aus der Hand nehmen lassen, auch von parlamentarischen Mehrheiten nicht. Keine Herrschaft wird so leicht ertragen, ja so dankbar empfunden, wie die Herrschaft hochsinniger und hochgebildeter Beamten. Der deutsche Staat ist ein Beamtenstaat. Hoffen wir, dass er das bleibt.“ Von diesem Ethos war selbst noch der kleine preußische Beamte geprägt, der am Schalter dem Bürger zu verstehen gab, dass er ein Untertan sei. Seitdem haben die Begriffe Bürokratie und bürokratisch einen negativen Klang. Sie stehen für Kleinlichkeit und Paragrafenreiterei und auch für ein mangelndes Freiheitsgefühl. Nicht von ungefähr wollte Lenin in totalitärer Übertreibung die Volkswirtschaft nach dem Vorbild der Post organisieren und alle Bürger zu Angestellten des Staates machen.

Es stimmt schon: der Rechtsstaat kann ohne Bürokratie nicht funktionieren, denn sie verwirklicht ihn durch Bindung an Recht und Gesetz. Gerade Liberale sehen dabei aber die Gefahr, das Staatliche könne dabei dominieren, weshalb die Bürokratie immer scharf zu beobachten sei. Noch in den vierziger Jahren konnte der liberale Vordenker Ludwig von Mises sagen: „Die Bürokratie ist erfüllt von einem unversöhnlichen Hass gegen die Privatwirtschaft und das freie Unternehmertum.“

Die Bürokratie gehört zur Moderne

Doch heute ist die Problemlage eine andere. Da sehen sich selbst liberale Parteien gezwungen, Gesetzen zuzustimmen, die notwendigerweise ein Mehr an Bürokratie nach sich ziehen. Die Welt ist so kompliziert geworden, dass sie ohne zusätzliche Regelungen nicht auskommt. Der Wohlfahrtsstaat hat die Sozialbürokratie hervorgebracht. Die Fortschritte in Technik und Medizin, die Zunahme des Verkehrs und des Warenaustausches, die Komplexität des Finanzwesens – all das kann nicht nur dem freien Spiel der Kräfte überlassen bleiben, sondern ruft auch die Bürokratie auf den Plan, denn der Bürger verlangt nach Gerechtigkeit und Sicherheit. In diesem Sinne versteht sich der Bürokrat von heute nicht als Unterdrücker, sondern als Wohltäter. Er schützt den Bürger vor Gefahren der modernen Welt.

Nun hat in den letzten Jahrzehnten unser Leben nichts so sehr verändert wie die rasante Entwicklung zur Industriegesellschaft. Dem entspricht die Zunahme an Regelungen und Vorschriften, von denen die Industrie meint, hier sei des Guten zu viel geschehen; sie klagt über wachsenden Kostendruck. Zwar hat auch die Industrie gegen innerbetriebliche Bürokratie zu kämpfen, aber deren Kosten unterliegen dem Prinzip der Kostenrationalität, sind also jeweils bezifferbar. Hingegen sind die ihr von außen auferlegten Lasten nur zu schätzen. Dabei geht es um die gewaltige Summe von fünfzig Milliarden Euro jährlich, die durch den Abbau bürokratischer Vorschriften verringert werden könnte.

Die Parteien versprechen viel, halten aber nicht Wort

Das indes vermag allein die Politik zu leisten, die ja das Problem hauptsächlich verursacht hat. Die Parteien stehen unter Druck und versprechen in ihren Wahlprogrammen, die Wirtschaftsbürokratie abbauen zu wollen. Bürokratie kostet Geld, bremst das Wachstum und vernichtet Arbeitsplätze. Erstmals hatte die Große Koalition 2006 das Projekt „systematischer Bürokratieabbau“ ins Leben gerufen. Die damalige Bundesregierung hatte sich zum Ziel gesetzt, bis Ende 2011 die Kosten um 25 Prozent zu reduzieren, doch es wurde glatt verfehlt. Das schwarz-gelbe Bündnis nahm im Herbst 2009 einen neuen Anlauf. Im Koalitionsvertrag legten Union und FDP fest: „Regeln sind kein Selbstzweck, weshalb es nicht mehr Regeln geben soll als erforderlich. Notwendige Regelungen müssen schlank und verlässlich sein.“

Bundesregierung vermeldet erste Erfolge

Man beließ es nicht bei Worten, sondern setzte, holländischem und britischem Beispiel folgend, einen Normenkontrollrat ein. Er besteht aus zehn unabhängigen Experten, die schon bei der Entstehung von Gesetzen auf bürokratische Lasten für Bürger, Wirtschaft und Verwaltung hinweisen. Die Bundesregierung vermeldet selbstzufrieden erste Erfolge: die Bürokratiekosten der Wirtschaft seien seit Ende vergangenen Jahres um 25 Prozent niedriger als noch im Jahr 2006. Das Kontrollrats-Mitglied Hanns-Eberhard Schleyer indes sieht das anders: „In vielen Unternehmen herrscht das Gefühl vor, es habe sich nicht viel bewegt.“ Wie auch immer: nach der Bundestagswahl im Herbst sollten neue, ehrgeizigere Ziele beim Bürokratieabbau angegangen werden. Aber bei Durchsicht der Wahlprogramme der Parteien melden sich Zweifel.

Schon vor einigen Jahren hat das Statistische Bundesamt eine Bestandsaufnahme gemacht und Gesetze und Verordnungen durchforstet. Die Beamten kamen auf 10 945 Bundesvorschriften, welche die Unternehmen belasten: Statistik- und Buchführungspflichten, Kennzeichnungs- und Nachweispflichten, die den Handwerker ebenso betreffen wie den Konzern oder das Architekturbüro. Am Ende kam das Statistische Bundesamt auf die Summe von fünfzig Milliarden Euro Bürokratiebelastung, eine Summe, die seither als Ausgangspunkt der Berechnungen gilt.

„Deutschland leidet unter bürokratischem Ballast“

Der Normenkontrollrat tut sich trotz einiger Erfolge schwer und kann nicht immer verhindern, dass neue Bürokratie entsteht. Allein durch die seit Mitte vergangenen Jahres vorgelegten neuen Gesetze stiegen die Belastungen der Wirtschaft um rund 300 Millionen Euro jährlich. So begründet das 244 Seiten lange Eisenbahnregulierungsgesetz fast zwanzig neue Informationspflichten für die betroffenen Unternehmen.

„Deutschland leidet unter bürokratischem Ballast,“ sagt der Hamburger Rechtswissenschaftler Ulrich Karpen. Er beobachtet seit Langem die Bemühungen der Politik, Bürokratie abzubauen. „Gewiss, es sind Fortschritte erzielt worden, doch die Erfolge werden zum Teil wieder aufgezehrt, etwa durch die Bürokratie, die wir selbst neu aufbauen oder die aus Brüssel auf uns zukommt.“

Beispiel Olivenöl: die Öffentlichkeit verhindert Quatsch

Brüssel mit seinem komplizierten Entscheidungsgeflecht erscheint den Menschen zunehmend als bloße Regulierungsmaschine. Die Regierungen der Mitgliedstaaten greifen das gerne auf. Unliebsame Entscheidungen werden gern auf Brüsseler Zwänge geschoben. So wird die Europäische Union zum Delegitimierungskomplex. Aber sie fällt auch immer wieder unangenehm auf.

Erst unlängst wollte die EU-Kommission das Servieren von offenen Olivenöl-Fläschchen in Restaurants bürokratisch regeln, scheiterte aber am entschiedenen öffentlichen Widerstand. Als berühmtestes Beispiel bürokratischen Unsinns gilt die Gurkenverordnung, die den Krümmungsgrad von Salatgurken regelte. Zwanzig Jahre lang erregte sie die Gemüter, bis sie vor vier Jahren geräuschlos beerdigt wurde. Tatsache ist aber, dass mittlerweile an die achtzig Prozent aller Gesetze, Industrienormen und sonstiger Rechtsakte letztlich aus Europa kommen oder damit zu tun haben.

Edmund Stoiber leitet Expertengruppe

Der frühere bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber leitet seit Jahren eine Expertengruppe der EU, die Vorschriften überprüfen und Bürokratie abbauen soll. Die Brüsseler Bürokratie verursacht den zwanzig Millionen Unternehmen in der EU jährlich Kosten von 360 Milliarden Euro. Um vierzig Milliarden habe er die Wirtschaft bisher entlasten können, sagt Stoiber. Aber man vermisst die Gegenrechnung, um wie viele Milliarden die Kosten in der Zwischenzeit gestiegen sind. Die Bürokratie gleicht der neunköpfigen Hydra aus der griechischen Mythologie. Wird ihr ein Kopf abgeschlagen, wachsen ihr an anderer Stelle zwei neue nach.

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