Hinter der Debatte um eine nationale Identität steht ein diffuses Unbehagen. Wer sich als schwach empfindet, verlangt nach Stärke, nach einfachen Lösungen. Unsere Gesellschaft ist in ihrer Offenheit bedroht.

Berlin - Der AfD-Vorsitzende Jörg Meuthen hat kürzlich Aufmerksamkeit erregt, indem er seine persönliche Wahrnehmung beschrieb: Wenn er mittags durch die Fußgängerzone seiner Heimatstadt Karlsruhe gehe, sehe er nur noch „vereinzelt Deutsche“. In einem Interview stellte ein Journalist vom Deutschlandfunk daraufhin die entscheidende Frage: „Woran erkennen Sie eigentlich, ob jemand ein Deutscher ist oder ein Ausländer?“ Meuthen: „Die Herkunft von Menschen, die kann man üblicherweise an ihrem äußeren Erscheinungsbild sehen. Ob sie einen deutschen Pass haben oder nicht, kann man nicht sehen.“

 

Es fragt sich also, was Herr Meuthen eigentlich genau sagen will. Wovon soll es mehr geben in Karlsruhe? Von Deutschen mit Pass oder mit Genpool, mit Herkunft bis ins wievielte Glied? Mit welcher Kultur, Sprache, Religion? Ist die sibirienstämmige Helene Fischer deutscher als der in Gelsenkirchen geborene Mesut Özil, der die Nationalhymne nie mitsingt? Ist ein Reichsbürger mit zerrissenem Pass und urbayerischen Großeltern deutscher als ein Tunesier, der seit zehn Jahren in Berlin lebt und vergangene Woche bei der Einbürgerung einen Eid auf die Verfassung leistete? Sind Österreicher deutscher als Polen – und wenn ja, dann bitte unter welchem Aspekt: historisch, ethnisch, sprachlich oder geopolitisch gesehen?

Meuthen sagt, er thematisiere seine Wahrnehmung – genauer wäre: er artikuliert ein Unbehagen, welches er auf unerwünschte Veränderungen in einer Gesellschaft zurückführt. Kürzer, aber nur bedingt zutreffend wäre: Ausländer raus.

Die Flüchtenden waren nicht der Auslöser

Mit jenem unstrukturierten Unbehagen ist Meuthen nicht allein. Unter dem Begriff Identität ist es in jüngerer Zeit in großen Teilen der westlichen Welt in den politischen Diskurs zurückgekehrt, und nationalistische Bewegungen entfalten damit Bindekräfte, für deren Entstehen inzwischen viele Menschen Erklärungsmuster suchen. Dabei wirkte die rapide zunehmende Zahl an Flüchtenden im Sommer 2015 mitnichten als Auslöser, höchstens wie ein Verstärker, da jenes Unbehagen nun ein konkretes Ziel fand.

Die Debatte in Europa hatte lange zuvor begonnen. In Deutschland erschien 2010 das Buch „Deutschland schafft sich ab“ des gewesenen Finanzsenators und Bundesbankers Thilo Sarrazin, und es entwickelte sich eine breite Kontroverse. Das Buch zählt bis heute zu den meistverkauften seit der Gründung der Bundesrepublik. Im Dezember 2014 gingen in Dresden zum ersten Mal Menschen auf die Straße, die sich selbst als „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ verstehen.

Alle wollen die „Identität“ erhalten, wahlweise einer „Nation“, eines „Volkes“, des „Abendlandes“, „der Deutschen“ oder eines „Wir“. Fragt man genauer nach, was bedroht sei, dann bekommt man sehr unterschiedliche Antworten: In Sachsen, wo 3,9 Prozent der Menschen keinen deutschen Pass haben und weniger als ein Drittel der Bewohner einer christlichen Kirche angehören, ist die Aufregung über die angebliche Umbenennung des Weihnachts- in Wintermarkt (eine Falschmeldung übrigens) Anlass für die Sorge vor dem, was rechte Parteien „den großen Austausch“ nennen. Sarrazin sorgt sich vor „Eroberung durch Fertilität“. Der AfD-Spitzenkandidat Alexander Gauland aus Brandenburg möchte das Land wiederhaben, das er „von seinen Vätern“ bekommen hat, was bei seinem Geburtsjahr 1941 die Frage aufwirft, ob er sich nach einem Deutschland in Schutt und Asche sehnt.

Warum berührt das Thema so viele Menschen?

Warum aber berührt das Thema die Menschen offensichtlich sehr? Geht es wirklich um die Idee einer nationalen Identität? Der Begriff Nation meint eine Gruppe von Personen, die ein Territorium beansprucht, sich bestimmten Regeln unterwirft und vorgeblich auch Merkmale teilt – aber schon bei der Sprache, bei der Religion, bei der Herkunft ergeben sich Unterscheidungen. Die Idee einer nationalen Identität ist erst recht ein Konstrukt. Der Mythos eines Volkskörpers, den Idealisten wie Johann Gottlieb Fichte als „unzertrennliches Ganzes“ betrachteten, wird nur vorstellbar, wenn man annimmt, dass solche Volkskörper komplett homogen vom Himmel fallen, anstatt zu entstehen, sich zu wandeln, von hier nach da zu wandern.

Aber der vielstimmige Chor der Identitätssucher ist laut. Und er hat einen anderen gemeinsamen Refrain, der viel klarer klingt: Beklagt wird ein Verlust; der einer Vergangenheit, die einfacher, wohlgeordneter schien. Früher war es besser, so die These. So ungesichert diese Behauptung ist, so kindlich-irreal die Vorstellung eines Zurück sein mag, so sehr scheint die Vokabel der Identität magische Kräfte zu entfalten: sie bietet eine Projektionsfläche für Sehnsüchte, verspricht Trost, Lösungen.

Dieses Wunschdenken beeinflusst sogar Wahlentscheidungen: In den USA ist es Donald Trumps Versprechen gewesen, ein „us“ versus „them“ wiederherzustellen, „Amerika wieder groß zu machen“. Bei „America first“ wird ein schlicht ökonomisches Argument bemüht: wer Teil der Gruppe, Inhaber der richtigen Identität ist, hat einen Anspruch, wer nicht, hat Pech.

Wirkmächtiger Kapitalismus

Dabei ist der Gedanke, dass eine nationale Lösung im Angesicht der großen politischen Probleme überhaupt möglich sei, geradezu rührend: wirkmächtiger als jede nationale politische Entscheidung ist ein global agierender Kapitalismus. Die Welt hat es zu tun mit Kriegen, zerfallenden Staaten, Terrorismus, einer großen Migrationsbewegung. Dies seien die Risiken, vor denen Globalisierungskritiker vor 20 Jahren gewarnt hätten, schreibt Heinrich Geiselberger, Herausgeber des gerade bei Suhrkamp erschienenen Sammelbandes „Die große Regression“. Transnationale Bündnisse erscheinen im Rückblick heute sogar schwächer als damals.

Die Globalisierung förderte mehr als alles andere einen radikalen Individualismus, ein „Kollektiv von Ich-AGs“, wie der Soziologe Harald Welzer sagt. Unter dem Rubrum der persönlichen Freiheit und der Gerechtigkeit wurde parallel auch Minderheitenpolitik gemacht. Für Migranten, für Geschlechtergerechtigkeit, für sexuelle Selbstbestimmung, für Bildungschancen, für Teilhabe. Die Gesellschaft ist dadurch insgesamt eine offenere geworden.

Diese Entwicklung hat aber auch Verlierer. Wer sich in der „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ nicht durchsetzt, kippt hinten über. Menschen, die zum Mainstream gehören und zu keiner Minderheit, entwickeln ein Gefühl der Bestandsgefährdung, auch, weil sie Privilegien verloren haben – die abwertend gebrauchte Formulierung des „mittelalten weißen Mannes“ steht exemplarisch dafür. Auch Menschen, die weder zu den Zeit- noch zu den Bildungseliten gehören, die arm, ungebildet, wenig engagiert sind, fühlen sich abgehängt von einer Gesellschaft, die sich gefühlt mehr mit dem Ausnahmefall beschäftigt. Die französische Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen hat dieses Gefühl erfasst und daraufhin den Kampfbegriff der „Normalität“ geformt.

So fehlen also auf politischer Ebene transnationale Institutionen. Und in der Gesellschaft fehlt, wie Geiselberger formuliert, ein „kosmopolitisches Wir-Gefühl“. Was bleibt, sind Wut, Verunsicherung und ein gefühltes Bekenntnisvakuum.

Der Bürger als Konsument einer politischen Dienstleistung

Es ist beängstigend, zu realisieren, dass die bisher bekannten Krisenbewältigungsstrategien nicht mehr zuverlässig funktionieren. Das führt dazu, dass das Vertrauen in die Institutionen erodiert – das gilt in letzter Konsequenz auch für das sicher geglaubte System der Demokratie. Das Versprechen der Teilhabe, der Sicherung der Lebensverhältnisse, des Lebens in Frieden trägt nicht mehr. Der Gesellschaftsvertrag zwischen dem Bürger und den Handelnden der repräsentativen Demokratie, wonach die Bürger sich an die Regeln des Spiels halten und die Politik im Gegenzug dafür sorgt, dass das Spiel läuft, ist verletzt. Wenn sich Bürger als Konsumenten einer politischen Dienstleistung sehen statt als Teil eines partizipativen Systems, wird gefordert, dass die Politik „abliefert“, und wenn nicht, dann tobt der „Wutbürger“. Dann schimpft er über eine politisch-mediale Klasse, die den Kontakt zur gefühlten Mehrheit verloren habe und „abgewählt“ gehört – auch hier: „Wir“ gegen „Die.“

Da ist es, das diffuse Meuthen’sche Unbehagen. Wer sich schwach fühlt, verlangt nach Stärke, nach einfachen Lösungen. Und so ist die Debatte über Identität ein simples Ventil. Das Wort ist dafür bestens geeignet – als Hülle, in die jeder stecken kann, was ihm wichtig ist. Oder wie der neue Direktor des Deutschen Historischen Museums, Raphael Gross, in einem Interview über den Begriff sagte: „Er führt eigentlich jedes Mal in die Irre.“

Warum entwickelt er dennoch so große Anziehungskraft? Der Geschichte geschuldet entfaltete der bundesrepublikanische Geist sich gerade in Ablehnung zur Idee einer kollektiven Identität. Anderes war gar nicht denkbar, nachdem die Fiktion einer überlegenen volksdeutschen Identität zum größten Menschheitsverbrechen der Geschichte geführt hatte.

Keine neue Verfassung nach der Wende

„Ich liebe nicht mein Land, ich liebe meine Frau“, wird Gustav Heinemann gerne zitiert – das war der anschlussfähige Antipatriotismus, der auf das Individuum statt auf ein Kollektiv setzte.

In einem interessanten Widerspruch dazu steht allerdings, wie in der Verfassung mit der deutschen Teilung umgegangen wird: Das Grundgesetz entstand als Provisorium, weil der Zustand der Teilung so inakzeptabel war, dass er nicht zementiert werden sollte. Darin liegt eben doch die Idee einer Volksidentität. Zugleich hatte die Bundesrepublik ein weiteres Identitätsmerkmal: Neben der sozialen Marktwirtschaft war es die Westbindung, also eine klare Abgrenzung zum „Drüben“, ein „Wir“ und ein „Die“.

Nach dem Fall der Mauer wäre also der Moment gekommen gewesen, darüber zu sprechen, wie aus „Wir“ und „Die“ etwas Gemeinsames werden kann, worauf sich die Bewohner dieser Republik einigen. Wie von den Gründervätern und -müttern vorgesehen, hätte sich die Gemeinschaft eine neue Verfassung geben müssen. Das unterblieb. Helmut Kohl formulierte den kleinsten gemeinsamen Nenner, der völlig überbaubefreit im eigenen Fertighaus lebbar war: Wohlstand, Frieden, D-Mark und Reisefreiheit, Europa weniger als gemeinsames Haus, denn als Hülle zur Verteidigung ökonomischer Sicherheit. Punkt. Aus ostdeutscher Sicht kam dazu: Nicht wählen gehen müssen und niemals positiv über die Vergangenheit sprechen dürfen – das von dort aus gesehen ehemalige „Wir“.

Eine Gesellschaft aus Individuen

Über die Demokratie, die allen Festreden nach „immer aufs Neue verteidigt werden muss“, über ihren Wert, ihre Stärken und Schwächen wurde nicht gesprochen. Ein Verfassungsreferendum hätte bedeutet, dass jeder Abstimmende in Verantwortung genommen wird. Es ist also bis heute nicht mehr als eine Annahme, das Grundgesetz sei der Text, hinter dem sich alle Deutschen versammelten. Sie müssen sich daran halten – mehr nicht.

In dieses Bekenntnisvakuum stößt nun die Debatte um den diffusen Begriff der Identität. Gewachsen ist die Zahl derer, die ihre Partikularinteressen vertreten: Eine Gesellschaft, die sich lose zusammensetzt aus Individuen, die für Selbstverwirklichung und Toleranz plädieren, ist in ihrer Offenheit durch radikale Vereinfacher, durch Nationalisten oder religiöse Fundamentalisten gefährdet. Dieser Diskussion auszuweichen, wird nicht ausreichen.