Die defensive Mittelfeldposition hat sich im Laufe der Zeit verändert und enorm an Bedeutung gewonnen. Der VfB hat entsprechend reagiert.

Stuttgart - Natürlich weiß Guido Buchwald, dass die Saison in der Fußball-Bundesliga auch dieses Mal nicht nach dem achten Spieltag zu Ende ist und dass sich bis zum Finale im Mai noch einiges bewegen wird. Trotzdem erkennt der Stuttgarter Ehrenspielführer bereits jetzt gewisse Tendenzen, wenn er auf die Tabelle blickt.

 

Dann sieht er etwa, dass der VfB erst sechs Gegentore hinnehmen musste. Nur der FC Bayern München und Borussia Mönchengladbach weisen eine noch bessere Bilanz auf. Vor einem Jahr war das Bild ganz anders. Da hatte der Torhüter Sven Ulreich zum gleichen Zeitpunkt schon 17-mal hinter sich gegriffen. Außer Gladbach war kein Club schlechter als der VfB. So lautet das erste Fazit von Buchwald: Zahlen lügen nicht.

Daraus resultiert seine zweite Erkenntnis, nämlich dass diese Entwicklung kaum ein Zufall sein kann, sondern Gründe haben muss. Der dritte Schritt führt ihn dann direkt zu William Kvist (26). "Er ist der Stabilisator und hat großen Anteil daran, dass die Mannschaft in der Abwehr inzwischen viel kompakter auftritt", sagt Buchwald (50).

Früher war der Sechser nur der so genannte Wasserträger

So scheint der dänische Neuzugang auf dem besten Weg, sich in die seit fast 30 Jahren bestehende Stuttgarter Liste der herausragenden defensiven Mittelfeldakteure einzureihen. Eine so hochkarätige Ansammlung dürfte kein anderer deutscher Verein zu bieten haben. Buchwald machte 1983 den Anfang. Es folgten Matthias Sammer, Carlos Dunga, Zvonimir Soldo, Pavel Pardo und Sami Khedira - lauter bewährte Nationalspieler mit internationaler Akzeptanz. Mit ihnen gewann der VfB einige Titel und kassierte in der Regel nur wenige Gegentreffer. Das untermauert die These von Buchwald. "Alle erfolgreichen Mannschaften brauchen einen guten Sechser", sagt er. Der neue Sechser heißt Kvist. Er ist der Schlüsselspieler.

Aber er ist nicht mehr der Sechsertyp, der 1983 gefragt war, als die Stuttgarter Serie begann. Kaum einer vermag besser zu beurteilen als Buchwald, wie sich das Anforderungsprofil auf dieser Stelle verändert hat - von den Anfängen der Bundesligageschichte bis heute.

Früher war der Sechser nur der so genannte Wasserträger für den Spielmacher, dem er den Rücken freizuhalten hatte. Als bekanntestes Beispiel für diese Rollenverteilung gelten Günter Netzer und sein Laufwunder Herbert Wimmer, die in den 70er Jahren die goldene Epoche von Borussia Mönchengladbach prägten und die Nationalelf 1972 zur Europameisterschaft führten. Das Gegenstück zu Netzer war Wolfgang Overath, der beim 1. FC Köln in Heinz Simmet auch seinen Wimmer hatte. "Solche Gespanne gibt es nicht mehr, auch weil der klassische Regisseur ausgestorben ist", sagt Buchwald. Der Sechser lebt dagegen weiter - nur anders.

Der moderne Sechser benötigt von allem etwas

Nach der Phase mit Wimmer und Simmet startete die Ära von Buchwald und damit die nächste Generation der Sechser. Im WM-Finale 1990 schaltete er den argentinischen Star Diego Maradona aus. Das direkte Duell Mann gegen Mann war die primäre Aufgabe, die der Sechser zu dieser Zeit hatte. Meist agierte er wie ein etwas nach vorne geschobener Innenverteidiger.

"Er musste sich nach hinten orientieren und war damit ausgelastet", sagt Buchwald. Mit dieser Order wurden Leute wie er, Wolfgang Rolff (Hamburger SV), Wolfgang Dremmler oder Norbert Eder (beide FC Bayern) ausgestattet. Abräumer sagte man dazu. Sie ersetzten die Dauerläufer wie Wimmer und Simmet.

Der moderne Sechser ist kein reiner Dauerläufer und Abräumer mehr. Vielmehr sind die Ansprüche immer weiter gestiegen. Er benötigt sozusagen von allem etwas. "Er ist zum Chef der Mannschaft geworden", sagt Buchwald, "er dirigiert, er lenkt, er steuert, er kontrolliert, er marschiert voran und bestimmt das Tempo."

Das Bindeglied zwischen Abwehr und Angriff

Dem Idealbild nahe kommen für ihn die Spanier Xavi und Andrés Iniesta, aber auch Bastian Schweinsteiger. Der Außenstürmer wurde von Joachim Löw umgeschult, weil der Bundestrainer bemerkte, dass Schweinsteiger strategische Fähigkeiten für höhere Aufgaben besitzt. Daran kann man laut Buchwald den Wertewandel ablesen. Der Sechser thront weit oben in der Hierarchie und ist zumindest der heimliche Herrscher. "Er muss mittlerweile ein kompletter Spieler sein", sagt Buchwald, "schließlich hat er das halbe Spielfeld vor sich - und das halbe hinter sich."

Da der klassische Regisseur von einst heute weiter nach vorne gerückt und fast schon ein Stürmer ist, ist der Sechser das Bindeglied zwischen Abwehr und Angriff geworden - siehe Kvist. In der vergangenen Saison sei es beim VfB so gewesen, dass der Sechser seine Position oft verlassen habe, sagt Buchwald - und meint damit Zdravko Kuzmanovic. "Dadurch sind viele Gegentore gefallen." Jetzt gibt es Kvist - und damit wieder einen, der im Begriff ist, die Sechsertradition in Stuttgart fortzusetzen. In diesem Fall hätte Buchwald die Statistik nach den ersten Spieltagen dann auch richtig gedeutet.

Guido Buchwald und andere Chefs im defensiven Mittelfeld

Spieler Der gebürtige Berliner Guido Buchwald wechselte 1983 von den Stuttgarter Kickers zum VfB. Er bestritt 325 Bundesligaspiele und wurde zweimal Meister: 1984 und 1992. In der Nationalelf kam er 76-Mal zum Einsatz. Der Höhepunkt war der WM-Titel 1990. Nach einem Abstecher zu den Urawa Red Diamonds in Japan (1994 bis 1997) beendete er seine Karriere 1999 beim Karlsruher SC.

Stationen Nach der aktiven Zeit arbeitete Buchwald zunächst als Sportdirektor beim KSC und bei den Stuttgarter Kickers. 2006 wurde er als Trainer mit Urawa Meister in Japan. 2007 wechselte er zu Alemannia Aachen. Derzeit ist er im Präsidium der Stuttgarter Kickers für das Ressort Fußball verantwortlich.

Guido Buchwald über...

Matthias Sammer (1990 bis 1992/66 Bundesligaspiele für den VfB/21 Tore) "Ihn zeichnete eine unglaubliche Dynamik aus. Mit seinen Tempodribblings bereitete er jedem Gegner große Probleme. Allerdings brauchte er eine defensive Absicherung und zumindest einen zweikampfstarken Spieler um sich herum."

Carlos Dunga (1993 bis 1995/53 Spiele/sieben Tore) "Ohne ihn wäre Brasilien 1994 nie Weltmeister geworden. Er hat das Team zusammengehalten - auch beim VfB. Er konnte das Spiel unheimlich gut lesen. Obwohl er nicht der Schnellste war, wusste er immer, wie er sich bewegen musste, um dem Gegner keinen Raum zu geben."

Zvonimir Soldo (1996 bis 2006/348 Spiele/18 Tore) "Er hat den Laden zusammengehalten und war der perfekte Führungsspieler. Seine strategischen und vorausschauenden Fähigkeiten waren beeindruckend - fast wie beim Schach. Er konnte den Rhythmus bestimmen und hat seine Position nie verlassen."

Pawel Pardo (2006 bis 2008/71 Spiele/vier Tore) "Er war nicht der ganz große Organisator, auch auf Grund sprachlicher Probleme. Aber mit seiner Spielintelligenz war er unersetzlich. Er war ein kompletter Spieler, der in fast jeder Situation instinktiv das Richtige gemacht hat."

Sami Khedira (2006 bis 2010/98 Spiele/14 Tore) "Er verkörpert den modernen Sechser und hat von allem etwas: Zweikampfgeschick, Kopfballstärke, Taktikgespür, Laufvermögen, Technik und Torgefährlichkeit. Von dieser Sorte gibt es nicht viele."

William Kvist (seit 2011/acht Spiele/kein Tor) "Er ist sehr diszipliniert und läuft immer richtig. Dazu strahlt er eine große Ruhe aus und vermittelt der Mannschaft so Sicherheit."