Auch nach dem Schlichterspruch demonstrieren tausende Menschen gegen Stuttgart 21. Boris Palmer ruft auf zum "Widerstand plus".

Stuttgart - Es ist in diesen Tagen gewiss nicht einfach, den Überblick zu behalten. Insofern haben selbst die vehementesten Kritiker von Stuttgart 21 vorweihnachtliche Milde walten lassen, als Sabine Leidig etwas durcheinander kam mit Zahlen und Worten. Warum Verkehrsministerin Tanja Gönner jetzt schon wisse, dass der geplante Tiefbahnhof kein siebtes und achtes Gleis brauche, fragte die verkehrspolitische Sprecherin der Linken jedenfalls in die Menge von Demonstranten, die sich am Samstag vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof versammelt hatte.

"Es wäre das neunte und zehnte gewesen, aber das macht ja nichts", spöttelte darob einer jener Stuttgart-21-Gegner, die seit mehr als einem Jahr regelmäßig gegen das umstrittene Bahnprojekt auf die Straße gehen. "Die Qualität der Redner wechselt", sprach der Mann, "aber der Widerstand bleibt." Das ist die Botschaft gewesen, die am Ende des Protestjahres 2010 von 16.000 (Schätzung der Polizei) bis 50.731 Demonstranten (Angabe von SÖS-Stadtrat Hannes Rockenbauch) ausging. "Wer hätte je gedacht, dass das ,bestgeplante Projekt' so gerupft wird?", rief der frühere SPD-Bundestagsabgeordnete Peter Conradi den Gegnern von Stuttgart21 zu und konstatierte, dass sich das Land verändert habe: "Es ist lebhafter, offener, politischer geworden."

Und showlastiger. Wie eine Band stellte Conradi ("Ich war der Älteste im Team") seine sechs Mitstreiter von der Geißler-Schlichtung vor: "den Spielführer" Werner Wölfle, "die Flora-und-Fauna-Expertin" Brigitte Dahlbender, "das Herz und den Kopf der Bewegung", Gangolf Stocker, "den Vater und Autor von K21", Klaus Arnoldi, "den kämpferischen" Hannes Rockenbauch und den "gnadenlosen Aufdecker" Boris Palmer.

Wie viel die Bewegung erreicht habe, stellte auch der Grünen-Politiker und OB von Tübingen ins Zentrum seiner Rede. "Wir hatten keine Hoffnung mehr auf die Parlamente; wir hatten nur die Hoffnung, dass Hunderttausende auf die Straße gehen", sagte Palmer. Das Ergebnis sei glänzend. Wie schon vor einigen Tagen im Interview mit der Stuttgarter Zeitung " betonte er, es sei das Verdienst der Demonstranten, "dass wir am Ende einen funktionierenden Bahnhof haben werden - egal, was gebaut wird".

Ziel bleibe aber ein modernisierter Kopfbahnhof - und das sei auch realistisch: "Stuttgart21 plus kommt nicht, weil es weder bezahlbar noch technisch realisierbar ist." Er setze dagegen auf "Widerstand plus mit Argumenten plus". Diese Botschaft müsse jetzt ins Land getragen werden.

"Bei diesem Projekt gelten andere Regeln"


Dabei sind die Worte dort längst angekommen. Seit Monaten fahre er regelmäßig zu den Demonstrationen in die Landeshauptstadt, sagt zum Beispiel Jürgen Hellgardt. Der 50-jährige Chemie-Ingenieur aus Lauffen am Neckar ist seit vielen Jahren im Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND), im Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC) und im Verkehrsclub Deutschland (VCD) aktiv. Seine Haltung gegen Stuttgart 21 sei einerseits die Folge von persönlicher Betroffenheit ("Die regionale Anbindung des Unterlandes wird schlechter") und andererseits geprägt von der Feststellung, "dass bei diesem Projekt andere Regeln gelten sollten als für alle anderen Bürger".

Daran habe auch die Schlichtung nichts geändert. "Je besser die Gegenargumente werden, desto vehementer wird die Ablehnung der Bahn und der Landesregierung", sagt Jürgen Hellgardt. Zwar wisse er, dass man das Projekt durchsetzen könne, "aber das wäre ein Schaden für die politische Kultur in Baden-Württemberg".

"Der Spruch ist enttäuschend, wir hätten uns eine Volksbefragung gewünscht", sagt denn auch Hellgardts Kollege, der BUND-Regionalgeschäftsführer Gerhard Pfeifer. Nach der großen Schlichtung seien es jetzt eben die kleinen Ziele, auf die der Protest ausgerichtet werde. Das nächste lautet: Stresstest. "Wenn der fair berechnet wird, klappt das Projekt nicht. Wir sehen in den Bedingungen von Heiner Geißler den Hebel, S 21 doch noch zu kippen."

Von Beginn an hat Pfeifer den Widerstand organisiert, die ersten Montagsdemos im Oktober 2009, seit Sommer die Samstagdemos. Zeitweise gab es nach der Aufstellung des Bauzauns im Juli mit dem Kulturmittwoch sogar drei Kundgebungen pro Woche. "Aber auch schon viel früher hat es Widerstand gegeben", sagt Gerhard Pfeifer und erinnert an mehrere Bahnhofsumzingelungen im Oktober 2008; an die 4000 Leute, die im September 2007 für ein Bürgerbegehren auf den Marktplatz gegangen seien; an Boris Palmer, dem im Dezember 2007 bei minus zehn Grad 5000 Leute im Schlossgarten zugehört hätten.

"Mich erstaunt, dass die Leute so ausdauernd sind", sagt Pfeifer. Die Erwartungshaltung habe sich über die Monate nicht verändert. "Unser Ziel heißt nach wie vor: Wir wollen S21 nicht", sagt Pfeifer. Und dafür gehen sie weiter auf die Straße, das nächste Mal am Montagabend. Nach einer letzten Montagsdemo am 20. Dezember gibt es eine Weihnachtspause bis zum 10. Januar. Allerdings behält der BUND sich weitere Aktionen vor, sollten Bäume gefällt oder der Südflügel abgerissen werden. "Wir fahren auf Sicht: Was machen Bahn und Politik? Wir wollen ja angemessen reagieren und nicht nur um des Demonstrieren willens auf die Straße gehen."