Die beiden Volksparteien haben an Bindekraft verloren, die Parteienlandschaft ist unübersichtlich geworden: Der Bürger weiß nicht, zu welcher Koalition seine Stimme führen wird.

Stuttgart - In der soeben erschienenen Geschichte der rot-grünen Koalition, die im Jahr 2005 abgewählt wurde, schreibt der Heidelberger Historiker Edgar Wolfrum: „Eines der auffälligsten Ergebnisse der Bundestagswahl war der relativ niedrige Stimmenanteil der beiden Volksparteien auf einem Stand, der jenem von 1953 entsprach. Bezog man die Bundestagswahlergebnisse auf die Gesamtheit aller Wahlberechtigten, erreichten die Volksparteien 1972 und 1976 rund 82 Prozent aller Wähler, wohingegen es im Jahr 2005 nur noch 53 Prozent waren. Aus zwei ehedem großen Parteien sind zwei mittelgroße geworden. Dass alles zur Großen Koalition führte, war der Arithmetik geschuldet, nicht unbedingt dem Wählerauftrag.“

 

Diese Äußerungen verblüffen, weil sie den Eindruck erwecken, als seien die Veränderungen in der politischen Landschaft, wie sie 2005 zu Tage tragen, der Wissenschaft jetzt erst richtig bewusst geworden. Tatsächlich spricht der Bonner Politologe Frank Decker von einer „Zäsur“. Die Etablierung eines Fünf-Parteien-Systems mache es unwahrscheinlicher, auf Bundesebene Zweierkoalitionen nach dem vertrauten mehrheitsdemokratischen Muster zu bilden. Die Anbahnung von Dreierkoalitionen drohe an programmatischen und habituellen Differenzen zu scheitern.

Große Koalitionen werden zur Regel

Zwar kam es nach der Großen Koalition, die 2005 zwingend war, noch einmal zu einer CDU/CSU/FDP-Koalition nach Bonner Muster. Sie war aber nur möglich nach einem Wahlerfolg der Liberalen, der sich in dieser Deutlichkeit bei der bevorstehenden Wahl nicht wiederholen wird. Der Blick auf das Berliner Vorwahl-Szenario könnte Deckers These bestätigen, dass Große Koalitionen nicht mehr die Ausnahme sind, sondern zur Regel werden: Die FDP schließt eine Ampel mit Rot und Grün entschieden aus. Ebenso entschieden lehnt die SPD ein Bündnis mit der Linkspartei ab. Die Grünen wollen nur mit den Sozialdemokraten regieren. Trotz vier schwerer Jahre wirbt die Union für eine Neuauflage mit den Liberalen. Die Linkspartei macht zwar SPD und Grünen Avancen, kalkuliert aber eine Absage ein.

So könnte am Ende eine Große Koalition wohl unter Führung Angela Merkels stehen. Die Kanzlerin hat inzwischen sogar selbst angedeutet, es könne wieder zu einem Bündnis von Union und SPD kommen, und hat damit die FDP verärgert. Gleichwohl – eine Neuauflage der Großen Koalition wäre eine Lösung, die der SPD jetzt schon Bauchschmerzen bereitet. Als sie sich das letzte Mal darauf eingelassen hatte, erntete sie zwar viel Lob für seriöse Arbeit, stürzte dann aber gleichwohl ab auf den niedrigsten Stand der Nachkriegsgeschichte. Seitdem hält man in der SPD eine Große Koalition für existenzgefährdend. Auch der Wähler sieht solche Bündnisse der Großen zunehmend skeptisch. Die erste Große Koalition von 1966 bis 1969 konnte noch 87 Prozent der Wähler auf sich vereinigen, aber nach 2005 waren es nur noch 69 Prozent. Genau genommen stellten nach dem Ende von Rot-Grün zwei Wahlverlierer, nämlich Union und SPD, die neue Bundesregierung.

Es ist dieser Umstand, der in den Augen der Politologen und Wahlforscher 2005 zu einer Zäsur macht. Es geht um die Volksparteien, die offenbar immer weniger als Bindeglied in der Funktionslogik des politischen Systems wirken. Die Folgen sind erkennbar: Die Parteien leiden an strategischer Unsicherheit über ihr Zukunftsprofil und ihre Identität, der Wettbewerbsdruck entideologisiert sie. Anders gesagt, im Bewusstsein, risikoanfälliger geworden zu sein, gleichen sie sich einander an.

Die Motivation sinkt, wählen zu gehen

Das wiederum erschwert dem Wähler die Entscheidung. Jenseits der Großen Koalition sind keine Bündnisse mehr kalkulierbar. Das Ganze wird zum Vabanque-Spiel für den Wahlbürger, der Stimmzettel zum Lotterieschein. Wenn dem Wähler nicht klar ist, was aus seiner Stimme wird, sinkt die Motivation, wählen zu gehen. Um dem entgegenzuwirken, empfehlen die Wissenschaftler das „Lindenstraßen-Paradoxon“: Wer die Große Koalition als Dauerserie verhindern möchte, muss die Parteien der Großen Koalition wählen. Nur wenn die Volksparteien genügend Stimmen erhalten, reicht es am Ende zu einer Koalition mit kleineren Parteien.

Allerdings hat dieser Rat seine Fragwürdigkeiten. Gerade die großen Parteien leiden an Auszehrung. Aktuell könnte die neue Partei „Alternative für Deutschland“, die den Euro problematisiert, der Union mehr zu schaffen machen, als sie sich eingestehen will. Noch schwieriger ist es für die SPD. Gerhard Schröders mutige Agenda 2010 hat der Linkspartei viele Wähler zugetrieben, und seitdem sucht die Partei einen Kurs „zwischen sozialer Kälte und populistischer Illusion“, wie es in ihren Papieren heißt. Zwar sagt der SPD-Vorsitzende Gabriel: „Man darf die politische Macht nicht um jeden Preis anstreben“, aber das ist eher nobel gedacht als ein Rezept, um damit Wahlen zu gewinnen.

Parteimilieus erodieren

Der Bedeutungsverlust der Volksparteien ist es vor allem, der die politische Landschaft unübersichtlicher macht. Das mag man bedauern, aber zurückwünschen kann man sich die alte Stabilität nicht. Längst wissen wir, dass die überkommenen Parteimilieus – kirchlich gebundene Wähler hier, gewerkschaftliche Bindungen dort – erodiert sind. Das liegt weniger an Parteiversagen als an strukturellen Ursachen. Die Wähler der Volksparteien waren (und sind es teilweise noch) geistig, ideologisch und wertemäßig in die Partei eingebunden. Daher rührte die Bindekraft. Alleine mit der These, „Mitte“ sein zu wollen, waren keine Wahlen zu gewinnen. Allgemein galt die Regel, dass eine Volkspartei als Massenwähler-, Mitglieder- und Funktionärsorganisation mehr als dreißig Prozent der Wähler erreichen musste.

Der Prozess der Individualisierung höhlt diese Grundlagen aus. Der Göttinger Politologe Peter Lösche sagt, die Volksparteien seien historisch überholt. Diese Aussage mag zu weit ausgreifen, aber tatsächlich haben die Volksparteien resigniert und den Versuch aufgegeben, sich die Wähler geistig-moralisch einzugliedern. Tiefere ideologische Durchdringung wird jetzt einem raschen Wahlerfolg geopfert.

Doch was die beiden Volksparteien an Bindekraft gegenüber den Wählern verloren haben, ist von den kleineren Parteien nicht gewonnen worden. Die Wähler von heute wandern zwischen den Parteien hin und her, aber auch ab in Wahlabstinenz. Nicht wenige der Politikwissenschaftler befürchten, der Anteil der Nichtwähler werde wachsen. Gespannt starrt man inzwischen auch auf die Wahlbeteiligung. Sie gilt als Indiz für demokratisches Bewusstsein. Es ist aber umstritten, wie intensiv die parteiliche, die politische Partizipation überhaupt sein muss. Jedenfalls bedeutet eine sinkende Wahlbeteiligung noch nicht das Ende der Demokratie.

Politikern wird Bürgerferne attestiert

Bedeutsam ist eine andere Entwicklung. Der Modernisierungsprozess entkoppelt Politik und Gesellschaft immer mehr. Die beiden großen Parteien brachten 2009 gerade noch 39,7 Prozent der Wahlberechtigten hinter sich, 1976 waren es noch – wie gesagt – mehr als 82 Prozent. Eine glatte Halbierung, die letzten Endes auch zu einem Ansehensverlust der repräsentativen Demokratie führen könnte. Dass sich Abgeordnete in erster Linie an den Interessen der Bevölkerung orientieren, meinten Anfang 1990 noch 42 Prozent, zwanzig Jahre später aber nur noch 15 Prozent. Zugleich wurde den Politikern eine ausgesprochene Bürgerferne attestiert.

Deren schwindendes Renommee kann nicht ohne negative Folgen für die Auswahl der Parlamentarier bleiben, auch für ihr Auftreten im Parlament selbst. Nicht von ungefähr klagte Bundestagspräsident Norbert Lammert unlängst: „Es schadet dem Ansehen des Parlaments, wenn der Eindruck entsteht, als folgten wir vorgeblichen oder tatsächlichen Vorgaben, statt selbstständig zu urteilen und zu entscheiden.“