Am 1. Mai beginnt in Hamburg der Evangelische Kirchentag – Anlass genug, um über die Frage nachzudenken, wie es die beiden großen Kirchen mit der Demokratie in den eigenen Reihen halten.

Familie, Bildung, Soziales : Michael Trauthig (rau)

Stuttgart - Im Grunde ist es ungerecht, wie unterschiedlich unsere Gesellschaft auf die Kür von Papst Franziskus einerseits und den Aufstieg des chinesischen Staatenlenkers Xi Jinping andererseits reagiert hat. Während die Inthronisation des Asiaten ob des intransparenten Verfahrens verständnisloses Kopfschütteln ausgelöst hat, begleiteten Menschen und Medien den Wechsel auf dem Stuhle Petri mit wohlwollendem Interesse, wenn nicht gar Begeisterung, fasziniert von einem Ritual, das in all seiner Fremdheit höchst anziehend wirkt. Doch in Rom ging es ähnlich undurchsichtig zu wie in Peking. Auch am Tiber verständigte sich eine Elite von Funktionären über den neuen Führer, das Volk blieb außen vor und die Demokratie auf der Strecke.

 

Mehr noch: während Xis Macht leidlich eingehegt ist von den Gremien der kommunistischen Partei, fungiert der Papst nicht nur als geistliches Oberhaupt von 1,2 Milliarden Katholiken. Er ist auch unumschränkter Herrscher der Kirche und hat kraft Amtes „höchste, unmittelbare und universale ordentliche Gewalt, die er immer frei ausüben kann“. Zudem ist er auch einer der letzten absoluten Monarchen auf dieser Erde. Gewaltenteilung kennt der Vatikanstaat nicht. Der Pontifex ist oberster Gesetzgeber, Gerichtsherr und höchstes ausführendes Organ. Man könnte von einer Diktatur sprechen, wenn auch von einer milden, denn die Zwangsmittel des Papstes sind überschaubar. Außerdem will er den Frieden fördern, sich als Hirte um seine Schafe kümmern und Diener Gottes sein.

Dennoch stellt sich die Frage, ob eine stärkere Beteiligung der Basis machbar wäre – oder ob just dies auf einen Verrat am Glauben hinausliefe. Für Traditionalisten ist die Sache klar: „Die Kirche ist keine Demokratie“, stellen sie fest wie zuletzt der Berliner Kardinal Rainer Maria Woelki im Reformstreit in seinem Bistum. Nach ihrer Auffassung ist die Gestalt, welche die Gemeinschaft der Gläubigen annimmt, gerade nicht von dieser Welt, sondern als Mysterium ein Ausfluss göttlichen Willens. Nicht das Volk dürfe bestimmen, sondern Jesus Christus müsse herrschen. Und die Vollmacht der Amtsträger werde von Gott verliehen. Dass die Kirche als Sozialgestalt aber eine Einrichtung sehr unvollkommener Menschen ist, tritt in dieser Sichtweise hinter ihrem sakramentalen Charakter zurück.

Nicht gottgewollt: das System der Unterordnung

Reformer, die sich mehr Mitsprache der Laien wünschen, können freilich mit guten Gründen dagegenhalten. Wolfgang Seibel, wie der neue Papst ein Jesuit und langjähriger Chefredakteur von „Stimmen der Zeit“, erinnert daran, dass die Vorstellung von der grundsätzlichen Differenz zwischen Kirchenverfassung und gesellschaftlichen Strukturen relativ jungen Datums sei. Erst im 19. Jahrhundert sei der Gedanke der Unvereinbarkeit der beiden Sphären aufgetaucht. Das war die Epoche des Kulturkampfs, als die katholische Kirche nach den Umstürzen der französischen Revolution und der Säkularisierung unter Druck stand, als sie um ihre Stellung, ja, um ihre Existenz kämpfte und auch übers Ziel hinausschoss.

Angesichts dieser Bedrohungen verdammte Papst Pius IX. „Irrtümer“ der Moderne wie die Trennung von Staat und Kirche, die Religions-, Presse- oder Redefreiheit. Damals beschloss auch das erste vatikanische Konzil das Unfehlbarkeitsdogma und zementierte die überragende Stellung des Papstes, wohlgemerkt gegen den Widerspruch vieler deutscher Bischöfe. Dabei spielten eine konservative Theologie ebenso eine Rolle wie pragmatische Erwägungen: eine Zentralfigur schien am ehesten geeignet zu sein, den Zeitläuften zu trotzen und nötige Beschlüsse schnell zu fassen. Kurzum: manches am System von Unterordnung und Gehorsam in der katholischen Kirche, das heute als Ausfluss einer ewig gültigen Tradition erscheint, ist zeitbedingt und wandelbar.

Etwas leichter tun sich traditionell die Protestanten mit der Demokratie. Bei ihnen ist das grundsätzliche Dilemma, das die meisten Religionen teilen, gemildert: Jeder Gläubige steckt in dem Zwiespalt, einerseits demokratisch legitimierten irdischen Instanzen folgen zu wollen, andererseits aber göttlichen Geboten im Konfliktfall den Vorrang zu geben. Aktuelle Beispiele für ein solches Dilemma ist etwa die Abtreibung in Konfliktlagen oder die Pränataldiagnostik an Embryonen. Während ein Protestant die Entscheidung in solchen Fällen auf rein persönlicher Ebene treffen kann, weil er ein zentrales Lehramt nicht kennt, sieht sich der mündige Katholik auch noch dem Zugriff seiner Kirche ausgesetzt, was die Gewissensnot steigern kann.

Der Pfarrer als Präsident

Doch auch im evangelischen Bereich gehen Volksherrschaft und Glaube nicht ohne Weiteres zusammen. Nur mühsam und widerwillig haben die evangelischen Kirchen – ähnlich wie die katholische – gelernt, dass die Demokratie die beste aller Staatsformen ist. Lange hatten sie dem Obrigkeitsstaat, der Liaison von Thron und Altar, nachgetrauert. Heute aber stehen an der Spitze der Bundesrepublik ein protestantischer Pfarrer als Bundespräsident und eine Pastorentochter als Bundeskanzlerin, heute wird der Rat christlicher Experten – etwa bei der Energiewende – von der Regierung gesucht, heute zeigt sich die gegenseitige Achtung von Kirche und Politik auch daran, dass Spitzenkräfte der Parteien am morgen beginnenden Evangelischen Kirchentag in Hamburg teilnehmen.

Innerkirchlich freilich ist das Verhältnis von Demokratie und Protestantismus nicht ganz so harmonisch. Das latente Misstrauen gegenüber dem Parlamentarismus in den eigenen Reihen schlägt bis in den Sprachgebrauch durch. Statt von Kirchenparlament und Fraktionen redet man lieber von Synode und Gesprächskreisen. Nicht zuletzt haben diese Gremien zwar deutlich mehr Entscheidungskompetenzen als bei den Katholiken, doch auch hier führt die Kirchenleitung ein zum Teil intransparentes Eigenleben. Sie kungelt Pöstchen aus, setzt sich zuweilen über Vorgaben ihrer Kirchenvolksvertreter hinweg und nutzt ihren Wissensvorsprung, um Abstimmungen zu steuern. Dazu kommen Probleme im Umgang mit dem Pluralismus. Interessengegensätze, deren Ausgleich ein Kennzeichen freiheitlicher Gesellschaften ist, werden selten offen ausgetragen, nur um das Bild einer Gemeinschaft im Glauben nach außen aufrechtzuerhalten. Auch die evangelische Kirche könnte also noch mehr Demokratie wagen.

Damit beide Konfessionen einen Schritt auf diesem Weg tun, wäre aber zweierlei nötig. Erstens: das Kirchenvolk müsste sich stärker als bisher einbringen. Momentan beteiligt sich beispielsweise nur jeder Vierte an der Wahl des evangelischen Kirchenparlaments in Württemberg. Zweitens: die Verantwortlichen müssten Meinungsvielfalt auch in den eigenen Reihen nicht als Bedrohung, sondern als Chance begreifen. Das eigene Gottesbild übrigens könnte zu dieser demokratischen Wende durchaus ermutigen. Wer weiß, vielleicht ringen Vater, Sohn und Heiliger Geist auch ständig darum, wo die Wahrheit wirklich liegt.