Zwischen 50.000 und 100.000 Bürger sind am Freitabend durch die Stadt gezogen. Die Polizei spricht von der bisher größten Demonstration gegen das Bahnprojekt.

Stuttgart - Im Mittleren Schlossgarten ist am Freitagabend nach dem Kahlschlag alles wie immer – abgesehen davon, dass 25 Bäume fehlen. Die aufgebrachten Bürger drängen sich auf dem zertrampelten Rasen, es sind mehr als jemals zuvor. Die Polizei wird später die Zahl der Demonstranten mit rund 50.000 angeben, die Parkschützer haben dagegen 100.000 Teilnehmer gezählt. Ungeachtet der erheblichen Differenz steht fest: Es ist die bislang größte Demonstration gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21.

Am Ferdinand-Leitner-Steg hat die Polizei ein Anti-Konflikt-Team im Einsatz. Es kommt zu Diskussionen zwischen Demonstranten und Beamten. "Ich habe den Glauben an diesen Staat verloren", sagt eine Frau, und ein gut gekleideter Mitvierziger zeigt stolz auf seinen K-21-Button am Revers: "So wie ich sehen die linken Chaoten aus, von denen Herr Mappus spricht."

Plötzlich Aufregung am Absperrgitter: begleitet von Fotografen und Kamerateams marschieren der Grünen-Bundesvorsitzende Cem Özdemir, Landtagsfraktionschef Winfried Kretschmann und zahlreiche weitere Mandatsträger der Ökopartei über den Platz, sprechen mit Demonstranten und gehen für die Medien in Pose. Fast verloren wirkt dagegen der SPD-Landesvorsitzende Nils Schmid, der nur wenige Meter entfernt vergeblich versucht, den Eiertanz der SPD bei Stuttgart 21 zu erklären. Ein Stück weiter wird ein Gottesdienst unter freiem Himmel abgehalten, die Menschen stehen im Kreis und singen gemeinsam: "Bewahre uns Gott."

S21-Gegner:"Das Schlimmste ist die Ohnmacht"


Die Kundgebung wird eröffnet mit einem Streichquartett, mit getragener Musik von Bach – das passt zur gedrückten Stimmung. Doch spätestens als der Protestveteran und SÖS-Stadtrat Gangolf Stocker die Bühne betritt, fassen die Menschen Mut. "Grube und Mappus halten unseren Protest nicht durch", ruft Stocker. Die Menge skandiert: "Mappus raus, Mappus raus." Anschließend ziehen die Massen durch die Stadt und demonstrieren friedlich.

Viele sind voller Wut wegen der Ereignisse der Nacht zuvor. Sie haben die Bilder noch im Kopf: Eine Minute nach Mitternacht bewegen sich die Polizisten auf ein für die Demonstranten nicht hörbares Kommando mehrere Meter auf sie zu. Wie von unsichtbarer Hand gesteuert gehen die Beamten den Protestierenden entgegen, die zu Tausenden hinter den Absperrgittern stehen. Aus gewaltigen Strahlern fallen Schneisen von Licht in den nachtschwarzen Park. Eben ist der 1. Oktober angebrochen – der erste Tag, an dem überhaupt Bäume im Schlossgarten gefällt werden dürfen. Die Demonstranten erleben, dass es der Staat ernst meint.

Ein junger Mann blickt auf die Einsatzhundertschaften, die eine menschliche Mauer bilden, und dann hinüber zu jenen Bäumen, die gefällt werden sollen. "Das Schlimmste", sagt er, bricht ab und zieht an seiner Zigarette, "das Schlimmste ist die Ohnmacht. Einfach das Gefühl zu haben, dass ich hier bin und gegen die Polizei nichts ausrichten kann." Noch stehen die Bäume, noch röhren nicht die Maschinen. "Aber die werden bald ernst machen", prophezeit der Mann.

Schlossgarten hat sich in ein Schlachtfeld verwandelt


Die Parklandschaft bietet zu diesem Zeitpunkt fast unwirklich anmutende Bilder des Friedens: In allen Rottönen flackern Hunderte von Grablichtern im Park, die von den Demonstranten in Kreisen um die bedrohten Bäume aufgebaut wurden. Unvermittelt wehen traurige und zugleich heitere Klänge von Posaunen und Akkordeons herüber. Doch die Balkanbeats sind nur ein Intermezzo vor dem nächsten Ausbruch von Wut und Enttäuschung.

Längst hat sich der Schlossgarten in ein gewaltiges Schlachtfeld verwandelt, in dem die Kamerateams verschiedener TV-Sender nach den richtigen Positionen suchen, um diese Botschaft in den Nachtjournalen zu verkünden: Beim Streit über das Milliardenprojekt Stuttgart 21 ist eine Stadt aus den Fugen geraten. Nachts um halb eins sind die Verletzten des Vortags versorgt. Der dramatischste Teil des Polizeieinsatzes ist beendet.