In der ersten Sitzblockadenentscheidung 1986 waren vier Richter des Bundesverfassungsgerichts der Meinung, es sei Gewalt, vier andere meinten, dass die Demonstranten völlig passiv gewesen seien und deshalb nicht gewaltsam gehandelt hätten. Eine andere Nuance hatte das sogenannte Brokdorf-Urteil vom 10. Januar 1995. Vorher hatte das Bundesverfassungsgericht immer argumentiert, dass eine Sitzblockade zwar "psychische Gewalt" sei, die vom Betroffenen aber körperlich empfunden werde, so könne beispielsweise ein Lastwagenfahrer zwar weiterfahren, müsse dann aber in Kauf nehmen, Blockierer zu verletzen oder gar zu töten. Die Bundesrichter hielten damals ihren Kollegen der unteren Instanzen entgegen, dass ihre Auslegung des Gewaltbegriffs nicht verfassungsgemäß sei. Psychische Gewalt allein reiche nicht aus, sonst wären auch zahlreiche Zwangseinwirkungen im Sozialleben, im Verkehr, in der Arbeitswelt und in der Schule Gewalt. Die Entscheidung fiel aber mit fünf zu drei Stimmen äußerst knapp, drei Richter hielten Sitzblockaden immer noch für Gewaltausübung.

Seitdem gilt eine Sitzblockade als Form des politischen Protests, wenn sie vorher als Versammlung (laut Artikel 8 des Grundgesetzes) angemeldet war. Die Polizei hat dennoch das Recht, sie aufzulösen. Umstritten ist, welche Zwangsmittel sie benutzen darf, wenn die Blockierer einfach sitzen bleiben. Wenn sie sich gegen das Wegtragen wehren oder festketten, dann ist ein Straftatbestand für das Bundesverfassungsgericht ganz klar erfüllt.

Die S-21-Sitzblockierer sehen sich in der Tradition von Gandhi


Eine Sitzblockade ist also nur dann ziviler Ungehorsam, wenn sie friedlich bleibt. Die Sitzblockierer vom Nordflügel oder vom Schlossgarten sehen sich in der Tradition von Gandhi bis Mutlangen. Die Bewertung von Polizei und Politik sieht aber anders aus. Der Stuttgarter Polizeisprecher Stefan Keilbach hatte mehrmals erklärt, eine Sitzblockade sei Nötigung - und immer wieder das Beispiel gebracht, dass jeder die Polizei rufen würde, wenn sein Nachbar ihm die Garage versperrte. So mache es auch die Bahn.

Diese Meinung, die auch der Innenminister Heribert Rech (CDU) vertritt, steht den Urteilen der Bundesrichter gegenüber. Wer einen Bagger daran hindern will in die Baustelle einzufahren, nimmt laut Brokdorf-Urteil sein Demonstrationsrecht wahr, wenn es als politische Versammlung angemeldet ist. Wer trotz mehrmaliger Aufforderung zu gehen, sitzen bleibt, muss in Kauf nehmen, dass die Polizei ihn auch wegschleifen darf und dass er für diese Behandlung eine Gebühr zahlen muss. Aber: eine Straftat begeht er nicht. Aber wann ist ziviler Ungehorsam und damit eine Sitzblockade angebracht? Bei den prominenten Vorbildern liegt die Latte hoch: Gandhi hat Indien von der Kolonialherrschaft der Briten befreit. Martin Luther King kämpfte für die Rechte der Schwarzen. In Mutlangen setzten sich Bürger gegen Atomwaffen und Rüstungswahn vor das Kasernentor.

Das Projekt Stuttgart 21 ist demokratisch legitimiert


Bei Stuttgart 21 geht es um ein teures Bauprojekt, das das Stadtbild verändert und dem alte Bäume zum Opfer fallen. Dazu kommt viel aufgestauter Unmut gegenüber den Mächtigen. Durch einen "symbolischen, aus Gewissensgründen vollzogenen bewussten Verstoß gegen rechtliche Normen zielt der handelnde Staatsbürger mit einem zivilen Ungehorsam auf die Beseitigung einer Unrechtssituation hin und betont sein moralisches Recht auf Partizipation", heißt es in einer juristischen Definition. Ist Stuttgart 21 eine Unrechtssituation? Das Projekt ist demokratisch legitimiert. Der Prozess war aber nicht transparent, die Öffentlichkeit war nicht immer korrekt informiert worden.

Es ist mit der Beseitigung einer Diktatur überhaupt nicht zu vergleichen. Dennoch haben die Richter einen solchen moralischen Wert niemals gefordert. Ein weiterer Aspekt ist aber auch, dass die moderne Mediengesellschaft nach spektakulären Bildern verlangt. Die werden bei einem normalen Demonstrationszug weitaus weniger geboten als durch eine Sitzblockade oder mit dem Besetzen von Bäumen.