Die Demonstrationen in mehreren Städten Baden-Württembergs werfen ein neues Licht auf die Integration der Russlanddeutschen. Das Beispiel der Stadt Lahr zeigt, wie sich zugewanderte Russlanddeutsche gegen Flüchtlinge mobilisieren lassen.

Baden-Württemberg: Heinz Siebold (sie)

Lahr - Jemand muss in Deutschland die Wahrheit sagen“, zischt der Mann und schiebt seinen Einkaufswagen aus dem Minimarkt zu seinem Kombi. In dem kleinen Supermarkt im Westen von Lahr im Ortenaukreis deckt sich die russlanddeutsche Gemeinde ein. Nur hier gibt es Blini und Pelmeni, Essiggurken, Konserven und Kekse original russischer Machart. „Ja, ich war am Sonntag dabei“ gibt er zu. Mit 350 anderen Spätaussiedlern war er vor das Rathaus der 44 000 Einwohner zählenden Stadt gezogen. Anlass war die Falschmeldung russischer Medien, in Berlin sei ein 13-jähriges Aussiedlermädchen von Flüchtlingen stundenlang vergewaltigt worden. Die Polizei fand schließlich heraus, dass das Mädchen die Geschichte erfunden hatte. „Die lügen nur“, insistiert der Spätaussiedler und räumt den Einkaufswagen aus. „Die sind kriminell, wir wollen sie hier nicht haben. Doswidanja.“ Er meint die Flüchtlinge.

 

„Das ist die schwarze Masse“, ruft Jelena* mit schriller Stimme. Die Friseurin in der Lahrer Innenstadt schwört, dass alle ihre Kundinnen ihrer Meinung sind, dass „die“ wieder verschwinden müssten. „Die sind die Unkultur, wir sind die Kultur“, brüllte ein Demonstrant vor dem Rathaus in gebrochenem Deutsch in das Megafon. Es war das erste Mal überhaupt, dass Russlanddeutsche hier demonstriert haben.

Migranten gegen Flüchtlinge. Knapp eintausend Flüchtlinge vor allem aus Syrien, Pakistan und Nigeria hat Lahr im vergangenen Sommer aufgenommen, zunächst wurden sie in Turnhallen untergebracht, nun in einer Containersiedlung auf dem Flugplatzgelände. Elftausend Spätaussiedler leben in der Stadt am Rande des Schwarzwalds. Die meisten von ihnen sind Mitte der 1990er Jahre gekommen, nachdem etwa die gleiche Zahl von Soldaten der kanadischen Luftwaffe und ihre Angehörigen aus der Garnison abgezogen waren.

„Wir sind immer Deutsche gewesen, ich bin deutsch erzogen worden“, sagt Olga Osipenko. Die jetzt 40-jährige energische Frau ist 1990 mit ihrem einjährigen Sohn an der Hand aus Kasachstan nach Lahr gekommen. Ein Jahr Studium der Lebensmitteltechnologie daheim nutzte ihr nichts. In Lahr arbeitete sie als Kellnerin und später machte sie sich als Transportunternehmerin selbstständig. „Man hat uns nichts geschenkt, wir mussten uns selbst durchbeißen“, erinnert sie sich, „es wurden falsche Gerüchte verbreitet, dass wir viel Geld bekommen würden.“ Nun aber kümmere sich die Regierung mehr um die Flüchtlinge als um alles andere. Die könnten hier machen, was sie wollten.

„Sie kommen aus einer anderen Welt, sie wollen sich nicht an unsere Gesetze halten.“ Ihre Mutter habe erzählt, dass mehrere Schwarze in einem Supermarkt einem Mütterchen die Tasche gestohlen hätten. Hat sie die Polizei verständigt? „Nein“, das bringe doch nichts, das wüssten die Flüchtlinge, deswegen seien sie so dreist. Sie würde abends nicht mehr alleine rausgehen und Straßen um die Flüchtlingscontainer meide sie. Natürlich gebe es in allen Völkern solche und solche. Die an Gott glauben und mit Familie da sind, seien meist vernünftig, das Problem seien die jungen Männer. „Was wird im Sommer, wenn unsere Mädchen Miniröcke tragen?“ Ausländerfeindlich sei sie nicht, ihr Mann sei Belgier, ihre Fahrer Letten, ein Mitarbeiter Kurde, aber einen Flüchtling werde sie nicht einstellen. Sie schätze Deutschland mehr als jedes andere Land, jetzt aber hat sie Sorge, dass die Deutschen das Land kaputt machen, weil sie so viele Flüchtlinge hineinlassen.

Deutsche, Russlanddeutsche, Russen – das Thema schien eigentlich durch. Willkommen waren „die Russen“, wie sie zum Teil bis heute

genannt werden, bei der einheimischen Bevölkerung vor zwei Jahrzehnten nicht. Es gab die üblichen Probleme bei der Integration von Migranten. Es gab Kriminalität, die den Lahrern Angst machte. Totschlag, Raub, Körperverletzung, Schießereien – Zutaten für ein Image, das der der Stadt bis heute anhaftet. „Das ist vorbei“, sagt Felix Neunlinger, Leiter des Lahrer Polizeireviers. „Vor fünfzehn Jahren war die Kriminalität bei Spätaussiedlern überproportional hoch, jetzt liegt sie im Durchschnitt.“ Die Gerüchte findet der Polizist gefährlich. „Es hat in Lahr bisher keine Straftaten von Flüchtlingen zum Nachteil der Bevölkerung gegeben.“ Natürlich gäbe es Vorkommnisse und unschöne Verhaltensweisen, die aber nicht strafrechtlich relevant seien. „Wir leben in einem Rechtsstaat, die Polizei macht ihre Arbeit gewissenhaft.“

Viele Lahrer Bürger sind nun über die Spätaussiedler irritiert. „Es hatte den Anschein, als ob sie sich gemütlich und friedlich eingerichtet hätten“, sinniert der Lahrer Stadthistoriker Thorsten Mietzner. „Sie sind fleißig, haben teilweise Häuser gebaut, sind qualifiziert und haben gute Arbeitsplätze.“ Der Aufmarsch im Stil der Pegida stört das Bild scheinbar gelungener Integration. „Was heißt denn Integration?“, fragt Mietzner. „Sie ist gelungen, sie sind durch und durch Deutsche geworden. Auch Pegida und AfD sind deutsch.“ Vielleicht habe man sich aber Illusionen gemacht und darüber hinweggesehen, was in einer stabilen Parallelgesellschaft passiert, die sehr konservative und autoritäre Werte hochhalte. Wo sich das Leben vor allem in den eigenen Kreisen, in der Großfamilie und den eigenen freikirchlichen Gemeinden abspiele und wo Informationen über das Weltgeschehen vor allem aus russischen Medien eingeholt werden, die Propaganda für Putins Politik treiben.

Manche haben schon wieder Angst vor der Vertreibung

Die Spätaussiedler kommen in den Verdacht, Moskaus „fünfte Kolonne“ zu werden. „Wir sitzen da wie die Maus“, jammert Ludmilla* und möchte am liebsten davonlaufen. Die 57-Jährige ist seit dreißig Jahren in Lahr, sie ist Russin und kam mit ihrem Mann und dessen Familie – Eltern und fünf Brüder samt Frauen – aus Kasachstan nach Deutschland. Seit der Demo ist die Stimmung in der Aussiedlergemeinde gereizt. „Allje koomen, sprechen und schreien. Ich weiß njet, ich versteh njet, das isch sehr gefährlich“, ruft Ludmilla verzweifelt. „Ich habe Angst“. Angst davor, dass das der Aufruhr auf sie zurückfällt.„Das isch nix gut“, sagt sie über die Demonstration. „Ich weiß njet, was die wollen.“ Für sie steht plötzlich auf dem Spiel, was sie und ihr Mann sich aufgebaut haben, ein Eigenheim, das gute Verhältnis zur Nachbarschaft, zu den Arbeitskollegen. Sie arbeitet in der Pflege, der Mann macht zwei Schichten am Tag, am Wochenende eine weitere in einem anderen Betrieb. Das Haus muss abbezahlt werden. „Wir haben Angst, dass wir wieder gehen müssen“, bricht es aus Ludmilla heraus. Zurück nach Russland? Sie ist doch Deutsche. Hat sie kein Vertrauen in den Rechtsstaat? „Kannsch du sagen, was isch in fünf Jahren, wenn diese Leute Macht haben?“

„Diese Leute“, die per WhatsApp Aufrufe starten, kennt man nicht, aber ihre Sprache ist verräterisch. „Achtung, es herrscht Krieg!“ heißt es und: „Das ist die erste friedliche Warnung an die Welt. Wenn wir jetzt nicht aufstehen, uns wehren und für Deutschland einstehen, überfahren sie uns wie die Ratten – jeden einzelnen.“

„Das war keine spontane Sache, das war gesteuert, die Wortführer waren in Lahr nicht bekannt“, sagt der Lahrer SPD-Oberbürgermeister Wolfgang G. Müller, der sich couragiert mit dem Megafon vor die Demonstranten gestellt und ihnen den Spiegel vors Gesicht gehalten hat. „Ich bin damals zig Mal gefragt worden, warum muss das kleine Lahr denn so viele Spätaussiedler aufnehmen?“, sagte Müller der Menge und erinnerte daran, dass den Russlanddeutschen die gleichen Ressentiments entgegenschlugen, die sie jetzt gegenüber den neuen Flüchtlingen äußerten. Es war der Moment, wo die Versammlung in Tumult hätte umschlagen können. Jemand versuchte, dem Stadtoberhaupt das Megafon aus der Hand zu nehmen. „Alle müssen auf Normaltemperatur runter“, forderte der Rathauschef. Mittlerweile haben sich Repräsentanten der russlanddeutschen Landsmannschaft von dem Protest distanziert. Der interkulturelle Beirat erklärt, die 350 Demonstranten seien nicht repräsentativ für die 11 000 Spätaussiedler.

„Wir müssen jetzt aufpassen, dass die Emotionen nicht überhandnehmen“, warnt Thorsten Mietzner. Noch seien die Beziehungen zwischen den einheimischen und später hinzugekommenen Deutschen nicht in Gefahr, noch sei man im Stadium der großen Verunsicherung, über die man jetzt reden müsse.

*Namen geändert