Geschichtenerzähler, Inszenierer, Tanz-Mastermind: Der Stuttgarter Choreograf Demis Volpi kreiert sein neues Stück „Salome“, das an diesem Freitag uraufgeführt wird. In den Probenwochen setzt der Argentinier das gesamte Opernhaus unter Strom.

Kultur: Ulla Hanselmann (uh)

Stuttgart - Die Luft ist zum Schneiden. Seit halb elf wird im Professor-Doll-Saal im Opernhaus trainiert und geprobt – um 13 Uhr haben sich Schweiß und verbrauchte Atemluft der Tänzer zu einer massiven Wand zusammengeballt. Die hochaufragenden Kassettenfenster des Saals sind fest verschlossen.

 

„Die Ballettsäle sind ein Alptraum“, hat Demis Volpi am Morgen noch angesichts der beengten Verhältnisse gestöhnt, einen Stock höher unterm Dach. In dem Kämmerchen BGH 3/1/2 haben er und Marco Goecke, die beiden Haus-Choreografen des Stuttgarter Balletts, ihr „Büro“. Nun sitzt Volpi zu Beginn der „Salome“-Proben mit seiner Entourage – zwei Ballettmeister, Dramaturgin, Assistentin – vor der Spiegelfront und blickt auf Salome und Johannes den Täufer. Die Enge, die Luft, das akustische Geflimmer der am Rand auf ihren Einsatz wartenden Tänzer, die über Smartphones wischen, sich leise unterhalten, in sich versunken Tanzschritte repetieren – diesen Alp hat er ausgeblendet. Jetzt ist er im Flow. Gefangen im Sog der Geschichte, die er mit seinem neuen Ballett „Salome“ am 10. Juni bei der Uraufführung erzählen will.

Volpis dunkelbraune Augen heften sich an Salomes kokett ausgreifenden Schritte, mit denen sie Johannes ansteuert. Als sie ihm ganz nah ist, dreht sie sich ein, presst den Rücken an seine nackte Brust. Er aber stößt sie weg, wirft sich eine Decke um die Schultern, kauert sich auf den Boden. Der Pas de deux ist eine zentrale Passage der Choreografie. Volpi – schwarzes T-Shirt, graue tief sitzende Jeans, schwarze Sneakers – geht mit zwei großen Schritten zum Täufer und macht ihm vor, wie er sich aus der Hocke aufrichten soll. „I want incredible . . . Pathos“, sagt er – und dreht sich fragend zu den Kollegen am Spiegel um: „Wie sagt man Pathos auf Englisch?“

„Krabat“ war sein Durchbruch

Englisch ist Tanzsprache, auch Deutsch spricht der Argentinier fließend. Als Kind hat er eine deutsche Schule besucht. 2002 kam er mit sechzehn an die John Cranko Schule, nach zwei Jahren wurde er ins Corps de Ballet übernommen. 2006 fing er an zu choreografieren, aus Langeweile, wie man in Interviews nachlesen kann. Vor drei Jahren dann sein großer Erfolg: das Handlungsballett „Krabat“, für das er den Tanzpreis Zukunft erhielt. Inzwischen gehen rund dreißig Werke auf sein Konto, arbeitet er für Kompanien im In- und Ausland. Demis Volpi, das Tanz-Mastermind. Der Geschichtenerzähler. Der Inszenierer. Ein herausragender Choreograf seiner Generation, weit über Stuttgart hinaus.

Nun ist sein drittes abendfüllendes Handlungsballett um Salome – Stieftochter des Herodes, Tochter des Herodias, die Johannes den Täufer begehrt, von ihm abgewiesen wird, worauf sie seinen Kopf verlangt. Unzählige Künstler haben in Opern, Filmen, Tanzinszenierungen ihre Sicht dieser faszinierenden Frauengestalt dargelegt. 1892 widmete Oscar Wilde ihr seinen skandalumwitterten Einakter – er ist Grundlage von Volpis Ballett.

Jetzt hat diese Salome also Volpi am Wickel. Und das ganze Opernhaus: Während der Probenwochen greifen am Eckensee zahllose Rädchen ineinander, damit das Publikum an diesem Freitag neunzig Minuten lang den Atem anhalten kann. Von den Ballettmeistern bis zum Schuhmacher, vom Inspizient bis zu den Schneiderinnen, vom Bühnenoberinspektor bis zur Social-Media-Expertin – alle denken nur noch: Salome. „Man lebt zwei Jahre lang mit dem Stück“, erzählt Volpi. Nachdem er Wildes Drama gelesen habe, sei er zum Intendanten Reid Anderson gegangen. „Mir war sofort klar: Das Stück braucht den Tanz, man muss diese Frau in Bewegung erleben.“

„Tänzer sind fabelhafte Wesen“

Den Prozess des Choreografierens, die Arbeit mit den Tänzern vergleicht der Dreißigjährige mit dem dichten, schwarzen Haarschopf mit der Bildhauerei. „Ein Bildhauer kann nicht aus jedem Stein jede Form erschaffen, sondern die Form entsteht aus dem Material heraus.“ Sein Material sind die Tänzer – „fabelhafte Wesen – so klug, so instinktiv, so diszipliniert.“ Dabei sei eine neue Choreografie jedes Mal ein Schritt ins Unbekannte, ganz egal, wie bekannt die Vorlage sei. „Es gibt kein System beim Choreografieren.“

Die Bewegungen entstehen im Hier und Jetzt des Ballettsaals, er legt sich nichts vorher zurecht. Jedem Stück eine eigene Identität, eine eigene Sprache zu geben – „das wäre mein Traum“, sagt Volpi, der für seinen innovativen Umgang mit den klassischen Formen gerühmt wird. Keine Angst vor Misserfolg? „Angst ist nicht mein Motor, sondern die Illusion etwas zu erschaffen, wo vorher nichts ist.“

Zurück in die Schöpfungs-Zentrale: Die Dramaturgin und Kommunikations-Chefin Vivien Arnold sitzt mit aufgeklapptem rotem Buch im Ballettsaal und macht sich Notizen. Einen Leitzordner voll Sekundärliteratur hat sie zusammengetragen, hat mit Volpi analysiert, interpretiert, diskutiert, strukturiert, mindestens zehn Libretto-Fassungen erstellt. Sie sei als Dramaturgin sein „sounding board“, mit ihr könne er seine Ideen durchdeklinieren, sagt sie. Während die Musikauswahl zu einem relativ späten Zeitpunkt erfolgt, stehen Tänzerensemble und Team früh fest: Wie bei „Krabat“ sind das neben Arnold die Kostüm- und Bühnenbildnerin Katharina Schlipf sowie die Beleuchterin Bonnie Beecher.

Zwanzig Schneider arbeiten an den Kostümen

Draußen hinter den Fenstern relaxed der Frühsommer – drinnen vibrieren die Büros, Werkstätten und labyrinthische Gänge vor Hochspannung. Die Kostümanprobe ist ein mit Tischen, Regalen, Kisten, Stoffen und Utensilien vollgestopfter Raum. Kostüme verhängen das einzige Fenster. Eine Sklavin, also eine Tänzerin, die eine Sklavin darstellt, steht in der Mittagspause im halb fertigen Kostüm vor dem Spiegel. Sie schlüpft in einen schwarzen Spitzenschuh. Wie kriegt man es hin, dass Ballettschuhe in Kombination mit Strümpfen wie Schnür-Stiletto-Overknees aussehen? Das ist es, was Katharina Schlipf will. „Wir brauchen Alfred, den Schuhmacher“, stellt sie fest. Doch als der auftaucht, hat sie mit ihren Kolleginnen schon eine andere Lösung ausgetüftelt: Sie haben den schwarzen Strumpf über dem Spann der Länge nach aufgeschnitten und markieren mit Sicherheitsnadeln die Stellen, an denen gekreuzte Bänder die Schnüroptik erzeugen sollen.

Die zwölf Kostümentwürfe für insgesamt 34 Rollen hat die Kostüm- und Bühnenbildnerin schon vor einem dreiviertel Jahr abgegeben. Bis zu zwanzig Schneider sind seit Wochen damit beschäftigt, sie anzufertigen. An Salomes schwarzem Mantel etwa hat eine Schneiderin eine Woche lang gearbeitet. Gerade ist sie dabei, das bislang nur geheftete Futter fest einzunähen, dann ist er fertig. Der Mantel für die Zweitbesetzung ist noch im Anfangsstadium. Ein zugeschnittenes Stoffteil liegt beim Kostümmaler Milenko Mociljanin auf dem Werktisch. Er macht sich daran, mit einer Brennpaste ein Pfauenfedern-Muster aus dem Viskose-Seiden-Gemisch zu brennen. Schlipf hat es nach Motiven des Originaldeckblatts von Wildes Drama entworfen. Der handbearbeitete Stoff ist eines von tausend Details der Inszenierung, die sich spätestens, wenn sich am Freitag der Vorhang öffnet, zu einem mitreißenden, harmonischen Ganzen fügen sollen.

Der Apfelkuss

Alles andere als harmonisch ist in den Augen Volpis die Stelle, an der er nun nach der Mittagspause im Ballettsaal feilt: Die beiden Sklavinnen sollen in einen Apfel beißen, der vor ihren Mündern an einer Tänzerhand baumelt. Volpi lässt die Sequenz mehrmals abspulen, korrigiert Winzigkeiten. Etwas passt noch nicht. „Wie wäre es, wenn ihr nicht hineinbeißt, sondern den Apfel küsst?“ Sein Ton ist wie immer freundlich, warm, aber bestimmt.

Noch immer keine Frischluft. Endlich sitzt auch die Apfelszene. Demis Volpi springt von seinem Stuhl auf, klatscht zweimal kurz in die Hände und sagt: „We go on – finally.“