Sollten in ferner Zukunft Aliens die Erde besuchen, gibt es vielleicht keine Menschen mehr. Aber wir haben jetzt schon etwas für sie vorbereitet: In einem alten Bergbaustollen lagert deutsche Kultur auf 40 000 Kilometern Mikrofilm.

Reportage: Robin Szuttor (szu)

Freiburg - Wir wollen nicht vergessen werden. Wir Menschen wollen so gerne Spuren hinterlassen. Sind wir denn je gewesen, wenn nichts bleibt? Seit 1977 rasen die beiden US-Forschungssonden Voyager zu den Rändern unserer Galaxie. Auch an Bord: goldüberzogene Kupferplatten mit Bild- und Toninformationen über uns. Eine ins All geschossene Flaschenpost. Und zugleich ein Vermächtnis. Empfänger unbekannt.

 

Die Platten sollen Zeugnis ablegen darüber, wie es mal war hier auf Erden. Was die Menschen alles geschaffen haben: Das Heulen des Windes ist darauf gespeichert, der Schrei eines Seeadlers, Musik von Wolfgang Amadeus Mozart und Chuck Berry. Bilder von einer Antarktisexpedition, ein Wohnzimmer mit offenem Kamin, eine Frau im Supermarkt, ein alter Mann und sein Hund, Herbstlaub, eine Blumenwiese, das Röntgenfoto einer Hand, eine stillende Mutter, die erste Zellteilung einer befruchteten Eizelle. Das Wunder des Menschseins.

Was bleibt von den Deutschen, wenn es sie nicht mehr gibt? Urkunden, Gesetzgebungsverfahren, Vertragstexte, Grundbücher. Knapp eine Milliarde historischer Dokumente auf 40 000 Kilometer Polyester-Mikrofilm gebannt. Und jedes Jahr kommen 500 Kilometer dazu.

Zeitkapseln im Berg

Sie ruhen zusammengerollt in luftdicht verschlossenen Edelstahl-Zeitkapseln des Bundesamts für Bevölkerungsschutz. In einer der ersten Chargen steckt die Krönungsurkunde Ottos des Großen aus dem Jahr 936. Die Goldene Bulle Kaiser Karls IV. von 1356 müsste auch in der Nähe sein. Und der Originaltext des Westfälischen Friedens. Auch ein Paradebeispiel: die päpstliche Urkunde, in der Leo X. dem Renegaten Martin Luther die Exkommunikation androht, sollte er seine Thesen nicht widerrufen. Die abfotografierte Bulle ist übrigens nicht Luthers Exemplar. Das verbrannte er damals öffentlich.

Das Kulturgut lagert in einem früheren Bergbaustollen, bombensicher, elektronisch und mechanisch hochgeschützt, gefeit gegen Überschwemmungen, Erdbeben, Feuerstürme, Stromausfall. 500 Jahre haltbar. „Wahrscheinlich sogar 1000, da kann kein Chip, keine CD mithalten. Und die Abspielgeräte altern ja noch schneller“, sagt Lothar Porwich. „Zum Lesen eines Mikrofilms reicht notfalls eine Glasscherbe als Lupe.“ Der 57-jährige Rheinländer verantwortet beim Bonner Amt für Bevölkerungsschutz die technischen Abläufe der Einlagerung. Ein- bis zweimal im Jahr kommt eine Fuhre mit 20 Fässern Nachschub. Bald soll auch eine Büchse mit den Inhaltsverzeichnissen dazu. Daran hatte man bisher noch gar nicht gedacht.

Oberried im Schwarzwald, umrahmt von grünen Almen mit Kühen, die von Weitem aussehen wie ins Gras gesteckte Dekoelemente. Diese Landschaft stellt man sich unweigerlich im Winterkleid vor. Porwich fährt im Passat auf einen Feldweg, steil bergan, vorbei an einer Kapelle, einem Bauernhaus, Ziegen, biegt auf einen Waldweg, der gewiss nicht für Limousinen gemacht ist. Stopp vor dem schweren Gittertor des Barbarastollens. Der Schauinsland ist von Gängen durchzogen wie ein Ameisenhaufen. Schon im 13. Jahrhundert wurden hier Silber, Blei, Zink abgebaut. 1903 trieb man am Fuße des Osthangs einen Stollen waagrecht ins Gestein. Nach zwei Kilometern sollte er an den Roggenbachschacht andocken und abräumen, was man dem Berg aus dem Bauch kratzte. Es kam nie dazu. Nach 700 Metern war Schluss. Von 1954 an lag die Zeche still. Seit 40 Jahren dient sie als Schatzkammer.

Eine Stahltür wie bei Dagobert Duck

„Ab hier ist die Alarmanlage normalerweise scharf“, sagt Porwich. Eine Maus hat es mal geschafft, durch die Gummidichtung unter der Tür zu schlüpfen. Sie hielt die Polizei eine Nacht lang auf Trab. Jetzt wird die Dichtung von einer Stahlschiene verstärkt. Der Metallschrank für die Helme ist beheizt, bei den 70 Prozent Luftfeuchtigkeit und 10 Grad Celsius im Stollen wären die Dinger bald mürbe.

Schnurgerade in den Berg, über Porwich 200 Meter Granit. Nach 400 Metern eine Stahltür, wie sie auch Dagobert Duck für seinen Goldspeicher verwendet. So dick und schwer, dass sie nur in Zeitlupengeschwindigkeit aufgeht. Wer sie knacken will, muss an dem Rädchen die richtigen Zahlenkombinationen einstellen. Ein Tipp von Porwich: „Es sind 13 Positionen.“ Der mit Spritzbeton verschalte Bunker besitzt den Flair einer Sondermülldeponie. „Aber hier ruht das Wertvollste, das wir haben“, sagt Porwich. 180 Tonnen deutsche Identität. 1500 Fässer. Die kann uns keiner mehr nehmen.

Porwich weiß von ähnlichen Projekten in Kanada, Australien und der Schweiz. Auch in amerikanischen und britischen Nationalarchiven kopiert man Dokumente auf Mikrofilm, steckt sie aber nicht in spezielle Depots. So ernsthaft wie Deutschland betreibt kein anderes Land seine Kultursicherung. Der Barbarastollen steht seit 1978 unter Unesco-Sonderschutz. Flugzeuge dürfen den Schauinsland nicht überfliegen, für Militär gilt ein Drei-Kilometer-Bannkreis. Dieses Privileg genießen weltweit nur noch der Vatikan und das Reichsmuseum in Amsterdam.

Schutz im Sinne der Haager Konvention

Nach dem Zweiten Weltkrieg beschlossen die Völker in der Haager Konvention, ihre Kulturgüter quasi vor sich selbst, vor der totalen Zerstörung zu schützen. In den 50er Jahren begannen die Deutschen, erste Urkunden auf Mikrofilm zu kopieren. Als der Kalte Krieg zu eskalieren drohte, suchte man ein sicheres Versteck. Der Berg im Breisgau schien ideal. Fast zeitgleich machte sich die DDR im brandenburgischen Ferch an ein gleiches Abfilmprojekt. Seit dem Mauerfall sind auch die Fotos aus Ost und West vereinigt. Vorsichtshalber hat man alle DDR-Filme neu kopiert. Die einzelnen Rollen waren dort nämlich nicht, wie in der BRD, aneinandergeschweißt. Nur geklebt. Zu ungewiss, schließlich sollen sie die nächsten tausend Jahre halten.

„Vielleicht“, sagt Porwich, „stoßen in ferner Zukunft, wenn es schon lange keine Menschen mehr gibt, irgendwelche Wesen auf die Fässer und betrachten unsere Dokumente so staunend wie wir die Höhlenmalereien aus der Steinzeit. Und einer von ihnen merkt dann vielleicht, dass da auf den Bildern etwas zu erkennen ist. Dass da ja Informationen draufstehen. Und vielleicht wird er neugierig und fängt an zu forschen und macht noch eine Dose auf und noch eine. Ich finde das einen schönen Gedanken.“

Was werden die Außerirdischen über Baden-Württemberg erfahren? Sie können 108 Mikrofilme mit Akten des Entschädigungsgerichts Freiburg studieren und – wenn sie gut Deutsch können – herausfinden, dass es hier früher eine Besatzungszone gab. Sie können die Kriegsstammrollen des badischen 14. Armeekorps 1914–1918 mustern, in denen das Schicksal jedes Soldaten nachgezeichnet ist: Wo wurde er eingesetzt? Wo verwundet? Wo fiel er? Oder vielleicht entdecken sie die Personalakten des Hof- und Staatstheaters Stuttgart von 1780 bis 1982 und lernen, dass hier außer Weltkriegern auch Schauspieler und Opernsänger lebten.

Ein Job für Vollblutarchivare

Was in die Edelstahltonne kommt, entscheiden die einzelnen Landesarchive. „Ich frage manchmal, welche Highlights denn als nächstes reinkommen. Aber so denken Archivare nicht, die denken in Beständen“, sagt Porwich. Ein Hölderlin-Gedicht hätte im Barbarastollen keinen Platz, die Gesamtakte Hölderlin des Marbacher Literaturarchivs schon. Briefe des Theologen Conrad Sam sind vor allem interessant als Teil des Bestands zur Reformationsgeschichte im Stadtarchiv Ulm, der zurzeit abgelichtet wird.

In Deutschland gibt es 14 Verfilmungsstellen, eine davon ist im Ludwigsburger Staatsarchiv. Sechs Mitarbeiter machen dort die Arbeit, die getan werden muss. Sitzen jeden Tag im Halbdunkel, blättern eine Seite um, streichen sie glatt, bedienen den Fußauslöser der 40 000-Euro-Kamera, blättern zur nächsten Seite, streichen sie glatt . . . Wenn es gut läuft, sind bis Feierabend 2000 Aufnahmen zu schaffen. In einem anderen Zimmer sitzen derweil Kollegen und kontrollieren bereits entwickelte Filme – Bild für Bild. Stimmt der Kontrast? Sind die Aufnahmen scharf? Ohne Schatten? Ohne Kratzer? Bei Mangelware kann man gleich wieder von vorne anfangen. Ein Job für Vollblutarchivare.

Bundesweit stehen für das Schutzprojekt jährlich dreieinhalb Millionen Euro zur Verfügung. „Eine Million müssen Sie schon mal für mein Gehalt abziehen“, sagt Lothar Porwich, ein Mann mit Mutterwitz. Er kann mit den Leuten. Wenn er in Oberried ist, übernachtet er im Goldenen Adler oder im Hirschen, setzt sich abends an die Stammtische. Er gehört dazu, kennt den Feuerwehrkommandanten, der jetzt ab und zu nach dem Stollen schaut. So ist Porwich nicht allein auf den Wachdienst angewiesen.

Vor 40 Jahren kamen die ersten Behälter

Porwich ist der richtige Mann, um Vertrauen bei den Leuten zurückzugewinnen. Denn als 1975 die ersten Behälter ankamen, war die Sorge groß. Keiner im Ort erfuhr nur das Geringste darüber, was da passiert. Und immer wieder verschwand neue ominöse Fracht im Hausberg, immer wieder stieß man auf eine Felswand des Schweigens. Klar, dass man nicht unbedingt auserlesene Kulturgüter in den Fässern vermutete. Erst in den 90er Jahren wurden Lage und Funktion des Bunkers öffentlich gemacht.

Heute lädt Porwich manchmal zum Tag der offenen Tür, lässt vorher frische Luft in den Bunker, weil es dort gern mal mieft. Zeigt den Gästen die Fässer, führt sie einen Dreiviertelkilometer tief in den Gneis, wo Tropfsteine hängen und ein Rauschen die Bergstille durchbricht. Eine Wasserader rieselt im Gestein und mündet am Ende des Stollens in einen kleinen Stausee.

Kaum dass Schluss war mit der Geheimniskrämerei, begann die Kritik an der Sache. Was im Berg lagere, sei gar kein Schatz der Nation, hieß es. Eher gesammelte Verwaltungsbürokratie. Zwar können auch Bestände aus kirchlichen und privaten Archiven, Museen, Bibliotheken in den Berg, aber zu guter Letzt sind es eben doch Behördenunterlagen, die dort landen – wenn auch wertvolle, einmalige, handschriftliche. Gedruckte Bücher gehören nicht hinein – „die schützen sich praktisch selbst“, sagt Porwich.

Die große Überraschung

Die Ouvertüre aus „Lohengrin“ werden Außerirdische nie zu hören bekommen. Wie eine Prinzregententorte schmeckte, erfahren sie auch nicht. Vielleicht finden sich irgendwo Baupläne vom Ulmer Münster, aber die ersetzen noch keine Kirche. Und lagerte man ein exzellentes Foto von Holbeins „Schutzmantelmadonna“ ein, so bliebe ihre Schönheit dabei doch halb auf der Strecke und wie der ganze Bunkerschatz in der zweiten Dimension stecken.

Aber halt! 50 Fässer gibt es, deren Inhalt man nicht mal im Bundesamt kennt. In den versiegelten Behältern liegen Objekte aus „Subduktive Maßnahmen ZBO – SdM 052004“. So hieß ein Kunstprojekt zum Jubiläum der Haager Konvention. 50 Künstler – darunter Jonathan Meese, Christoph Schlingensief, Jörg Immendorf – wurden gebeten, ein Werk zu spenden. Bedingung: es musste in einen Lagerbehälter passen und sich an den Themen „Kernbohrung“ und „Querstanzung“ orientieren. Die Kunstdosen dürfen erst im Jahr 3504 aufgemacht werden. Da wartet noch eine große Überraschung.