Clara Immerwahr, die Frau des Nobelpreisträgers und Giftgaserfinders Fritz Haber, stand den Forschungen ihres Mannes äußerst kritisch gegenüber. 1915, elf Tage nach der Ypern-Offensive im Ersten Weltkrieg, wählte sie den Freitod.

Karlsruhe - Im Frieden für die Menschheit, im Kriege fürs Vaterland“. Das war ein wichtiger Leitspruch des Forschers Fritz Haber, dem an der Technischen Hochschule Karlsruhe, dem heutigen KIT, 1909 der Durchbruch gelang bei der Ammoniaksynthese, für die er später den Nobelpreis bekommen sollte. Mit den damals gelegten Grundlagen wurde Haber nach 1914 jedoch auch „Vater des Giftgaskrieges“. Dem weltweit ersten Giftgasangriff bei Ypern folgte ein Ehedrama im Hause Haber.

 

An der Westfront in Flandern – die Kleinstadt Ypern liegt etwa auf halber Strecke zwischen dem belgischen Brügge und dem nordfranzösischen Lille, nahe der Atlantikküste – plante das Dritte Armeekorps der Deutschen im Ersten Weltkrieg schon seit dem Jahreswechsel 1914/1915 den Einsatz von Giftgas. Der erste Einsatz eines Chlorgasgemisches erfolgte dann am 22. April 1915. Die Deutschen setzten damit als erste Nation weltweit Giftgas als moderne Massenvernichtungswaffe ein. Tausende von Gasflaschen waren zuvor in Stellungen bei Ypern eingegraben worden. Eine gelbliche Wolke schwebte in Richtung der gegnerischen Linien.

Nach dem Ypern-Einsatz wurde Haber zum Hauptmann befördert

Dem todbringenden Gemisch, dessen Einsatz vor Ort der seit Herbst 1914 im Kriegseinsatz befindliche Professor für physikalische Chemie und Elektrochemie, Fritz Haber leitete, fielen Tausende Senegalesen, Marokkaner, Türken und Kanadier zum Opfer. Die Franzosen waren in dem monatelang anhaltenden Stellungskrieg nicht in vorderster Front. Der Angriff, für den wochenlang auf die ideale Windrichtung gewartet werden musste, erfolgte mit 6000 Gasflaschen und riss die Front auf einer Breite von sechs Kilometern auf. Fritz Haber hatte sich ganz „in den Dienst des Vaterlands“ gestellt und geglaubt, den Verlauf des Weltkriegs entscheidend beeinflussen zu können. Nach dem zum „Erfolg“ hochgejubelten Einsatz bei Ypern wurde Haber zum Hauptmann befördert – was ihm als konvertierten Juden, der 1893 zum christlichen Glauben gewechselt hatte, in der herrschenden antisemitischen Stimmung zuvor lange verwehrt geblieben war.

Tageszeitungen des Reiches schrieben Tage später zynisch von „deutschen Dämpfen“ bei Ypern – diese könnten allenfalls „geschwollene Schleimhäute“ auslösen. Tatsächlich führten sie an der belgischen Westfront bei bis zu 20 000 Soldaten zum Tod – ausgelöst durch Erstickung und Lungenödeme.

Die Familie lebte in Karlsruhe in der Moltkestraße

Welche Folgen der Giftgasangriff für Haber persönlich zeitigen sollte, zeigte sich einige Tage später. Der 1868 in Breslau geborene Fritz Haber, seit 1894 als Assistent an der TH Karlsruhe tätig und 1906 dort zum ordentlichen Professor und Direktor des Instituts für physikalische Chemie berufen, hatte im Januar 1901 die ebenfalls promovierte Breslauer Chemikerin Clara Immerwahr geheiratet. Die zwei Jahre jüngere Clara steckte seit der Geburt des gemeinsamen Sohnes Hermann 1902 in vielen Dingen zurück und war nicht (mehr) berufstätig. Die Familie lebte in Karlsruhe lange in der dortigen Moltkestraße 31.

Clara Haber, geborene Immerwahr, galt als wahrheitsliebend und geradlinig: sie wollte Sachen ausdiskutieren und fühlte sich in ihrer Rolle als „Anhängsel“ eines ehrgeizigen, vor allem seinem Beruf verschriebenen Wissenschaftlers offenbar zusehends unwohl. Sie verzichtete auf Modetrends und erschien bei Empfängen im Haus in der Karlsruher Weststadt zuweilen in der Kochschürze – bewirtete ihre Gäste freilich vorzüglich. Die Spannungen zwischen ihr und ihrem auf die Forschung fixierten Gatten wuchsen.

Lungenödemn und inneres Verbluten

Fritz Haber wurde Ende 1911 zum Direktor des neuen Kaiser-Wilhelm-Instituts (KWI) in Berlin-Dahlem berufen, das 1912 seinen Betrieb aufnahm. In dem Institut, seit 1953 das „Fritz-Haber-Institut“, versammelten sich zahlreiche Wissenschaftler. 1914 wurde Haber zum Berater des Kriegsministeriums, der Etat des Instituts stieg beträchtlich.

Das mit der Ammoniaksynthese entwickelte „Haber-Bosch-Verfahren“ diente zunächst zur Herstellung von Salpetersäure, einem wichtigen Bestandteil von Munitionssprengstoff. Haber wurde mit Ausbruch des Krieges auch zum Leiter der „Chemischen Abteilung“ ernannt – in Dahlem und auf einem Schießplatz bei Köln-Wahn wurden erste Versuche gemacht mit Gasgemischen. Am 17. Dezember 1914 kam dabei im Gasraum des Instituts in Dahlem ein Mitarbeiter ums Leben.

Haber führte auch Tierversuche durch – mit Mäusen, später mit Hunden, Katzen und Affen. Bei ihnen traten – wie später bei Soldaten an der Front – immer dieselben Symptome auf: Lungenödeme, inneres Verbluten, ein alles in allem qualvoller Tod.

Zwei Biografien haben sich mit Clara Immerwahr befasst

Mit der Rolle von Habers Frau Clara haben sich in den neunziger Jahren zwei Biografien befasst: Gerit von Leitner („Der Fall Clara Immerwahr“, München 1994) und Margit Szöllösi-Janze („Fritz Haber 1868– 1934“, München 1998). Demnach hatte Clara Haber schon zu Kriegsbeginn engen Freunden von ihren Gewissenskonflikten berichtet. Ihr Zorn richtete sich zunächst gegen die Tierversuche. Fritz wollte von ihren Einwänden, der Kritik „an der Perversion der Wissenschaft“ nichts wissen. Clara hielt sich wenig an die ihr auferlegte Geheimhaltungspflicht.

Fritz warf ihr vor, nur „aus idealistischen Motiven“ gegen den Krieg wirken zu wollen. Er verwehrte ihr zusehends den Zugang „zu seiner Welt“ und warf ihr vor, „sie stehe außerhalb der Realität“. Die Männer von Habers sogenannter Truppe „meteorologischer Frontbeobachter“ interessierten sich nur für Technik und Taktik, dafür, wie sie an der Frontlinie die mit Gas befüllten Stahlflaschen geräuschlos transportieren und in Schützengräben sicher vor feindlichem Beschuss würden einbauen können. „Nachdenken behindert das patriotische Geschäft“, wurde Clara von einem Adjutanten Habers beschieden. Am 1. Mai 1915 eskalierte die Situation: Der nach dem Giftgaseinsatz von Ypern zum Hauptmann beförderte Fritz Haber feierte mit Gästen in der Dahlemer Villa seine Ernennung zum Offizier – auf die er 1889/90, als er noch nicht zum Christentum übergetreten war, vergeblich gewartet hatte.

Als das Haus schließlich leer war, schrieb Clara über Stunden in mehreren Abschiedsbriefen auf, was sie der Nachwelt übermitteln wollte. An der Garderobe des Hauses hing die Dienstwaffe ihres Mannes. Damit schoss sie sich im Morgengrauen des 2. Mai 1915 ins Herz – und war nur wenige Stunden später tot. Das Hauspersonal hatte die Abschiedsbriefe gesehen. Doch später waren sie verschwunden – vermutlich wurden sie bewusst vernichtet.

„Beklemmend soldatisch“

Die „Grunewald-Zeitung“ berichtete damals: „Durch Erschießen ihrem Leben ein Ende gesetzt hat die Gattin des Geheimen Regierungsrats Dr. H. in Dahlem, der zur Zeit im Felde steht. Die Gründe zur Tat der unglücklichen Frau sind unbekannt.“ Hauptmann Haber war noch am 2. Mai, dem Todestag seiner Frau, an die Ostfront, dem heutigen Südostpolen, abgereist. Er äußerte sich lediglich einmal kurz schriftlich, am 12. Juni, zum Tod seiner Frau. Der Brief, gerichtet an einen Chemieprofessor, wurde angeblich aus einer Mülltonne in Karlsruhe gezogen. „Beklemmend soldatisch begegnete er dem Freitod seiner Frau“, urteilte später einer seiner Biografen. Haber wurde 1919 vom norwegischen Nobelkomitee für das Modell der Ammoniaksynthese mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet. Die Verleihung fand im Juni 1920 statt. Zuvor hatte er noch befürchtet, als Kriegsverbrecher verhaftet zu werden und war zeitweilig auf der Flucht.

1933 musste er – als Jude von Herkunft – von seinem Posten als Institutsleiter in Dahlem zurücktreten und bereitete seine Emigration vor. Doch Fritz Haber starb am 29. Januar 1934 überraschend im schweizerischen Basel – an einem Lungenödem. Für Peter Exner, den Historiker am Generallandesarchiv Karlsruhe, der das Ehedrama für die grenzüberschreitende deutsch-französische Ausstellung „Menschen im Krieg 1914–1918“ aufgearbeitet hat, ist dieser Tod eine „Ironie der Geschichte“: auch die vielen Giftgasopfer waren auf diese Weise gestorben.