Bernd „Harlem“ Fischle ist ein Heimatdichter der besonderen Art. Er schreibt von schäbigen Hinterhöfen, verrauchten Spelunken, von Schädelharry und anderen schrägen Typen. Ein Jahrzehnt lang hat man nichts von ihm gehört. Nun taucht er wieder auf.

Bad Cannstatt - Aus den Lautsprechern kommt die alte Rockmusik, Bernd „Harlem“ Fischle schätzt sie sehr. Von Musik hat er sich schon früh zu Gedichten inspirieren lassen, vor allem von Blues, Soul und Hip-Hop. Im La Concha am Stuttgarter Wilhelmsplatz ist es Eric Clapton, der im Hintergrund Gitarre spielt. Dazu das scharfe Knallen der Würfel auf dem Backgammonbrett. „Früher“, sagt Fischle, „war das La Concha meine Stammkneipe.“

 

Damals, in den Achtzigern, lebte Fischle in einer WG in der Alexanderstraße, oberhalb des Wilhelmsplatzes. Er arbeitete für die Stuttgarter Jugendgerichtshilfe mit straffällig gewordenen Jugendlichen, kehrte nach Feierabend in der Kneipe ein. Nun sitzt er an einem Tisch abseits der Backgammonspieler und blättert in seinen Gedichten, auf losen Blättern, blättert in dem Band „Die Helden des Rückzugs“, den der Ludwigsburger Kleinverlag Killroy Media 2009 veröffentlichte. Langzeilige Gedichte sind es zumeist, in kleinformatigen Typoskripten, Wortfelder, aus denen immer wieder an unerwarteten Stellen Großbuchstaben herausragen und andere, seltsame Lesarten vorschlagen. Einem Gedicht gegenüber liegt stets eine Buchseite mit einem grobkörnigen, fotokopierten Foto.

Auf den Fotos: Vorbilder, Idole, bekannte, unbekannte Gesichter, beliebige Szenen. Der Stuttgarter Hauptbahnhof, unscharf, verwaschen, helle Flecken der Straßenlaternen, Zebrastreifen. Miles Davis, Brendan Behan, Rolf Dieter Brinkmann, William Burroughs, Robert Crumb, Werner Schwab, Jeff Tweedy von Wilco, Sonny Barger von den Hell’s Angels. Ein Foto aus dem Café Lehmitz, ein frühes Bild von Donald Fagen. Isaac B. Singer und Rainer Werner Fassbinder. Ist das Johnny Cash? – „Ich weiß es nicht mehr.“ Vorsätzlich unscharf sind diese Bilder, Fragen des Urheberrechts will Fischle aus dem Weg gehen. Er ist ein Sammler, einer, der aufliest, was am Rande liegt, und es in seine Ordner, Umschläge, Gedichte packt. „Mir geht es darum, die kleinen Dinge des Alltags, Wortschöpfungen und Gesehenes, in eine Reihenfolge zu bringen“, sagt er. „So, dass daraus vielleicht eine Geschichte in einem Gedicht entsteht, oder eine Stimmung, oder, bestenfalls, beides. Meine Gedichte sind alle ein Gemisch aus persönlichen Erlebnissen und anderen Geschichten.“

Der Erzähler trifft sich mit Schädelharry in der Bar „Zur hoffnungslosen Jugend“

Zum Beispiel „Die Kolonie der Gesetzlosen“: „In HARLEM wurde es langsam kühler und die NEGER / holten ihre SOULmäntel aus den GHETTOschränken“ – so beginnt das Gedicht. Der Erzähler trifft sich mit „Schädelharry“ in der Bar „Zur hoffnungslosen Jugend“. Sie steigen über umherliegende Crack-Babys hinweg und finden einen von Kugeln durchsiebten Lottokönig auf einer Nappaledercouch. „Schädelharry“, sagt Bernd Fischle, „war tatsächlich ein Jugendlicher im Jugendhaus Hallschlag. Der konnte so gut Kopfball. Aber ein bisschen gangsterhaft klang das schon.“

Im Jugendhaus Hallschlag, heute gelegentlich Konzertlocation, früher eher eine Problemzone der Stuttgarter Jugendarbeit, war Fischle Sozialarbeiter, bevor er 1990 zur Jugendgerichtshilfe kam. Davor hatte er eine Ausbildung zum Notar abgebrochen, die Fachhochschulreife nachgeholt und in Esslingen Sozialpädagogik studiert. „Bezirksnotar“, sagt er, „wollte ich nicht werden, weil’s mir zu unlebendig war, dauernd nur Gesetze zu lernen.“ Seine Anstellung als Jugendgerichtshelfer war ihm später der Brotberuf. Seit neun Jahren ist er im Vorruhestand.

Geboren wurde Bernd Fischle 1951 im Stuttgarter Osten: „Am Schlachthof, beim Gaskessel, da bin ich groß geworden.“ Längst hat er seine Heimat in Bad Cannstatt gefunden, in einem Backsteinbau, mit viel Nachbarschaft. Dort fühlt er sich wohl. Dort befindet sich auch das Biereck, die Kneipe, die in vielen seiner Gedichte auftaucht, die er mit Gestalten und Geschichten bevölkert hat. „Tatsächlich war ich da niemals Stammgast“, sagt er. „Die Figuren sind auch erfunden.“ Das Biereck ist für Fischle ein metaphorischer Ort in seiner Stadt, eine Maske. Das Leben in den Kneipen hat er lange hinter sich gelassen. Im La Concha trinkt er Mineralwasser. „Ich mag eigentlich gar keinen Alkohol“, sagt er.

Im Dreck von New York

Der linke Schriftsteller Peter O. Chotjewitz, 2010 in Stuttgart gestorben, rezensierte einst „Die Helden des Rückzugs“, Fischles Band mit Biereck-Gedichten, für die Zeitschrift „Konkret“. „Harlem“, schrieb Chotjewitz, „ist nicht nur der Heimatdichter der ‚Negerprovinz‘, er ist auch ein waschechter Wortakrobat. Nicht Ironie, Besinnlichkeit und schwarzer Humor sind seine Fermente, sondern der Ingrimm, der Döblin dazu trieb, ‚Berlin Alexanderplatz‘ zu schreiben.“

In Harlem, New York, war Bernd Fischle wirklich, dort holte er sich seinen Beinamen. Heute will er kein Aufheben mehr machen von der Reise, die er 1986 antrat, mit einem Stipendium des Schomberg Center for Research of Black Culture. Neun Monate dauerte sein Aufenthalt. „Ich habe mich für James Baldwin interessiert“, erzählt er. „Ich habe viel gelesen dort, aber vor allem habe ich die Stadt genossen. In den 1980er Jahren war in New York ja noch alles schmutzig, dreckig. Drogen und so weiter. Es war viel spannender als heute. das alte Harlem gibt es ja nicht mehr.“ Jahre später reiste Fischle noch einmal nach New York, dieses Mal gemeinsam mit seiner Frau, um den Kulturschock zu erleben, den die Stadt, die niemals schläft, für einen Schwaben bedeutet. „Ansonsten“, sagt er, „war ich eigentlich immer in Stuttgart.“

1986, im Jahr seines Harlem-Aufenthalts, nahm Fischle auch seinen Hinterhof-Rap auf. „Hinterhöfe sind mir nicht fremd / Hinterhöfe kenn’ ich schon als Kind / Fußballspiel an grauen Mauern / Hinterhofkinder sind zu bedauern“, singt er mit scharfer Stimme zu scharfen Beats. Aus Harlem kehrte er heim mit einer Faszination für die neue schwarze Musik, auch mit Miles Davis’ Trompete unterlegte er seine Rap-Zeilen. Ein Schreiben der Ralph-Siegel-Musikverlage, bei denen die Rechte für das Davis-Stück liegen, bewahrt Bernd „Harlem“ Fischle bis heute in einem seiner vielen Ordner auf: die Genehmigung, diese Musik zu verwenden – „einmalig in einer Jugendsendung des Südfunks“.

Er will sich abgrenzen vom Literaturbetrieb

Auch das Unwort „Neger“ geistert seither durch Fischles Texte, als ein Stigma, das er angenommen, sich von der schwarzen Kultur der USA geliehen hat. „Soul, und später Hip-Hop, das Interesse an schwarzer Kultur und dem schwarzen politischen Engagement, an der Bürgerrechtsbewegung, das war eine meiner größten Leidenschaften“, sagt er. „Ich weiß nicht mehr, woher das kam. Aus der Musik wohl und aus einem jugendlichen Gerechtigkeitsdenken. Weil ich gesehen habe, dass Amerika nicht das Paradies ist, aber ohne dabei je in einen Antiamerikanismus zu verfallen.“

Vom Kulturverständnis der Stuttgarter Halbhöhe will Fische sich ebenso abgrenzen wie vom Literaturbetrieb: „Mein Buch heißt nicht umsonst ‚Die Helden des Rückzugs‘.“ Aus persönlichen Gründen hat er sich lange Zeit zurückgezogen. Einen „gewissen Überdruss“ – den allerdings empfand er auch. Den Intellektuellen gegenüber, der Literatur. „Das war ein schleichender Prozess. Aber das literarische Leben kreist eben immer nur um sich selbst. Dafür bin ich viel zu breit aufgestellt.“ Er interessiert sich für Fußball, für Popmusik und Kochen. Er sieht sich populäre Fernsehsendungen an, über die manche die Nase rümpfen. Er hat keine Berührungsängste. Selbst mit dem verpönten deutschen Schlager kann Fischle etwas anfangen: „In meiner Kindheit gab es keine Popmusik. Da liefen eben Schlager.“ Fischle ist einer, der zu seinem Leben steht und sich nicht verbiegen lassen will. Von niemandem.

Dabei wirkt der Mann, der im La Concha in seinen Gedichten blättert, vorsichtig, fast schüchtern. Von der Schärfe des Hinterhof-Raps spürt man in seiner Stimme nichts mehr. Weit mehr als zehn Jahre sind vergangen, seitdem Bernd Fischle zuletzt öffentlich aus seinen Gedichten las, im Depot am Ostendplatz, auf Einladung des Buchhändlers Wendelin Niedlich. Fast 40 Jahre ist es her, seitdem er seinen ersten Band mit Gedichten veröffentlichte. „Aus der Hüfte kommt der Schwung“ hieß dieses Buch, das 1981 in der Edition Künstlerhaus Stuttgart erschien. Manfred Esser, Autor des „Ostend-Romans“, und Wolfgang Kiwus unterstützten Fischle. Man traf sich im Waldheim Gaisburg: „So bin ich in literarische Kreise gekommen.“

Heimatgedichte der anderen Art

Heimatgedichte der anderen Art waren es, die Bernd Fischle damals, als noch nicht 30-Jähriger, schrieb. Die Umdeutung des Heimatbegriffs lag im Trend der Zeit, und Fischle wetterte in noch viel kürzeren, bissigen und poetischen Zeilen gegen das große Geld, die Investoren. „Damals“, sagt er, „war das eine Schablone: Alles ist schlecht, aber wenn man aufsteht und etwas tut, dann wird alles gut.“ Naiv findet er dieses Denken heute. „Verändert hat die Stadt sich schon, aber vielleicht auch in eine andere Richtung, als ich dachte.“ In Stuttgart – besser: in Bad Cannstatt – lebt Fischle immer noch sehr gerne. „Warum“, so ließ er 1976 eines seiner Gedichte beginnen, „sollte es / ausgerechnet hier anders sein / als in irgendeiner sterbenden Großstadt?“

Fischle hat nur vier schmale Bände mit Gedichten veröffentlicht. Geschrieben hat er unablässig, vieles für die Schublade, viele Briefe auch. „Ich war immer ein bisschen frech und habe einfach Leute angeschrieben“, sagt er. „Und bei manchen hatte ich dann auch Erfolg.“ So entstanden Brieffreundschaften – mit dem Liedermacher Franz Josef Degenhardt, den Schriftstellern Hermann Peter Piwitt und Wolf Wondratschek (der aber nur selten antwortete). Mit Harry Rowohlt hielt er zwölf Jahre lang einen Briefkontakt aufrecht.

Bernd Fischle ist ein widersprüchlicher Mensch, bescheiden und doch äußerst hartnäckig. Er hat immer weitergemacht, ohne zu fragen. Der Vorwurf, er sei ein Dichter, der nicht dichten könne, stört ihn nicht sehr. „Ich schreibe so vor mich hin und versende die Sachen dann“, sagt er. „Ich denke, die Welt wartet nicht auf meine Gedichte. Es gibt so viel Literatur, die viel bedeutender ist.“

Seltsam, dass gerade einer, der mit solchem Eifer Kontakte pflegt, seine Zeitgenossen mit den Elementen seines privaten Kosmos überschüttet, vom Internet nichts wissen will. Aber vielleicht weiß er einfach genau, dass E-Mails und Postings sich allzu leicht in einen Papierkorb verschieben lassen. Die großen braunen Umschläge, mit denen Bernd „Harlem“ Fischle die Welt beglückt, beklebt mit ausgeschnittenen Zeitungsschlagzeilen und natürlich Sondermarken, liegen derweil seltsam sperrig auf den Tischen und wollen gelesen werden. Wer Post bekommt von diesem sturen Mail-Art-Künstler, der findet in den Umschlägen nicht nur Fischle-Texte, sondern immer auch ein Sammelsurium an Zeitungsausschnitten, Bildern, Kopien, Briefen, über die sich die sorgfältige kleine Handschrift des Autors hinzieht.

„Ich will eigentlich gar nicht so viel lesen“

Vom La Concha aus sind es nur wenige Minuten bis zum Café Weiß, dorthin, wo Bernd „Harlem“ Fischle nun wieder lesen wird, zum ersten Mal seit so vielen Jahren. Am Donnerstag tritt er auf, mit Hawelka, der Stuttgarter Band, die sich im Abseits der verrauchten Kneipen mindestens so wohlfühlt wie er. Diese Vorliebe hat sie zusammengebracht, den Hinterhofdichter und die Band mit dem Namen eines Wiener Cafés. „Ich will eigentlich gar nicht so viel lesen“, sagt er mit gewohnt vorsichtiger Zurückhaltung. „Die meisten Leute kommen doch sicher wegen der Band.“

Ein bisschen zitterig, erzählt Bernd „Harlem“ Fischle, fühle er sich auch noch bei der Auswahl seiner Texte, obwohl er seit 2010 wieder eine ganze Reihe an Gedichten verfasst hat. Das letzte von ihnen entstand erst im Dezember 2016, es heißt „ToNite I serve NoBody“ – eindeutig übersetzt: Heute Nacht diene ich niemandem. „Aber es ist schon sehr gut“, sagt Fischle, „wieder einmal an die Öffentlichkeit zu gehen.“