Der Dramatiker Tankred Dorst, eine der prägenden Figuren des deutschen Theaters, ist mit 91 Jahren gestorben. Zeitlebens haben ihn die großen Fragen umgetrieben: Wo kommen unsere Träume her? Was wird aus ihnen?

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Bis fast zuletzt, als er dann vor vier Jahren doch nach Berlin gezogen war, besuchte Tankred Dorst regelmäßig Premieren an den Münchner Kammerspielen. Wenn er an einem vorbeikam im Foyer, mit der weißen Mähne und ein wenig gestützt auf einen Stock mit elegantem Handknauf, konnte man in seinen Augen tatsächlich sehen, was man in den Augen vieler anderer Leute, die auch schon lange ins Theater gehen, nicht mehr so oft sieht: Da war einer wirklich neugierig und gespannt, wie man ihm eine alte oder auch junge Geschichte erzählen würde. Insofern besuchte Dorst die Bühnen wie ein Architekt, der über Baustellen geht, gerne auch über solche, mit denen er selber gar nichts zu tun hat. Wieder und wieder schärfte er seinen Blick fürs Wesentliche: fürs Theater. Er kam nicht los. Aber wie auch?

 

Wie sehr der gebürtige Thüringer Dorst, der in München jahrzehntelang in einer großen Schwabinger Wohnung mit seiner Frau und Co-Autorin Ursula Ehler lebte, mit dem Theater verbunden gewesen ist und das Theater mit ihm, mag man an Folgendem sehen: Dorsts Stücke wurden und werden fast auf der ganzen Welt gespielt, aber am Ausgangspunkt, in der Münchner Maxvorstadt, im Marionettentheater in der Neureuther Straße, haben sie ihm eben auch die Treue gehalten bis heute: Wenn am Donnerstag der Vorhang im Kleines Spiel genannten Theater hochgeht, ist immer wieder ein Dorst aus der Vorzeit dabei: „A Trumpet For Nap“, zum Beispiel, über einen Tellerwäscher, der nicht hören kann und fühlen lernen muss, oder „Aucassin und Nicolette“, eine kleine Liebesgeschichte in einem großen Krieg zur Musik von Wilhelm Killmayer.

Die Historie spiegelt sich im Einzelschicksal

Diese beiden Stücke sind frühe Versuche Dorsts. Beide sind, weil irgendwie überzeitlich, noch absolut vorzeigbar. Und da haben wir schon Charakteristisches im Schaffen von Tankred Dorst beisammen: Was nämlich, fragte Dorst von Anfang an in seinen Stücken, wird aus unseren Träumen und Utopien, privat und gesellschaftlich? Und wo kommen die Träume her?

Zurückgekehrt aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft, begann Dorst mit Fingerübungen, ballte aber schon nach einiger Zeit die Faust, wenn auch nicht ganz freiwillig: „Toller“, am schicksalsträchtigen 9. November 1968 vom Brecht-Schüler Peter Palitzsch, damals Schauspieldirektor in Stuttgart, dortselbst uraufgeführt, handelte bei Dorst davon, wie die Münchner Räterepublik entstehen sollte – und wie sie sofort zerfällt. Wie von selbst jedoch lud sich das Stück auf mit dem Geist der Zeit und wurde von Palitzsch auch ideologisch gelesen. Das wiederum war, von Dorst aus betrachtet, ein Fehler, denn genau dies hatte der Autor vermeiden wollen, weil er nicht mehr, wie Bert Brecht, von der Parabel her (sprich: theoretisch) dachte, sondern vom Menschen her. Also praktisch – und mit allen Konsequenzen.

Auf diesem Weg – und bevor die Überindividualisten, emotionalen Expressionisten und Erbsensenzähler kamen – suchte Dorst sich seinen eigenen Weg: in „Auf dem Chimborazzo“, in „Die Villa“ oder in „Korbes“ spiegelte sich Historie immer im Einzelschicksal. Der Zuschauer musste kein Kompendium abarbeiten, sondern durfte sich in Charaktere hinein denken. Das war, auch wenn es anstrengte, sehr schön und sehr erhellend. Letzten Endes aber waren auch das nur Vorarbeiten für ein übergroßes, wahrlich den Bühnenrahmen sprengendes Stück von Tankred Dorst aus den frühen achtziger Jahren: „Merlin oder Das wüste Land“, uraufgeführt in Düsseldorf, was damals oberflächlich so wirkte, als wolle das Theater nun an Tolkiens „Herr der Ringe“ vorbei flugs ins Fantastische aufbrechen. Das Gegenteil war der Fall: Dorst, der sich eingehend mit dem Mittelalter, Artus und seiner Tafelrunde sowie der Suche nach dem Gral beschäftigt hatte, ließ das Stück – wie häufig bei ihm – auf einen allzeit gültigen Generationenkonflikt hinaus laufen: Während sein Vater, König Artus, noch so etwas wie Utopie (und Moral und auch Gott) für möglich hält, proklamiert der Sohn, Sir Mordred, das Nichts als eine schöne, große Sinnlosigkeit.

Exkursionen ins Unbekannte

„Merlin“ war Dorsts größte Leistung: ein ausuferndes, teils naiv erzähltes, dramatisches Weltuntergangstheater, das sich viel Menschlichkeit und auch noch eine klitzekleine Utopie gestattete. Dennoch oder gerade deshalb gab es danach immer wieder Leute, die Dorst als eine Art höheren, vernachlässigenswerten Märchenonkel betrachteten, der er nie und nimmer war. Aber das bekümmerte ihn kaum. Unbeirrt folgte er seiner Richtung zwischen herrlichem Kindertheater („Wie Dilldapp nach dem Riesen ging“), realistischem Zeitstück und zahlreichen Versuchen, über das Absurde hinweg abzuheben, um wieder zu landen, zuletzt auf „Prosperos Insel“: Die Märchen und Mythen ließen Tankred Dorst nie los. Als er solche Modelle bei seinem Opernregiedebüt – auf die Schnelle Lars von Trier bei den Bayreuther Festspielen 2006 vertretend – auf den „Ring“ von Richard Wagner allzu naiv übertrug, schlug das Monster-Stück mächtig zurück. Der menschenfreundliche Dorst wurde förmlich überrollt von der latent rohen Gewalt bei Wagner, dessen Utopien über die von Dorst weit hinaus gingen. Ein eklatantes Missverständnis.

Zuletzt kümmerte sich Tankred Dorst, auch dies ein schöner Zug eines immer aufgeschlossenen Mannes, noch um die erst in Bonn, später in Wiesbaden stattfindende Theaterbiennale „Neue Stücke aus Europa“. Sein Eifer in der Fortführung dramatischer Exkursionen ins Unbekannte war beträchtlich. Gerade erst fertiggestellten Werken, vornehmlich aus dem Osten Europas, aufgeführt in der Originalsprache und simultan übersetzt, gehörte Dorst besonderes Augenmerk. Bis zuletzt ging er einfach gerne ins Theater und versprach sich noch etwas von der Form. So rundete sich sein Leben. Am Donnerstag ist der große Geschichtensammler mit 91 Jahren in seiner Wahlheimat Berlin gestorben.