Vor 25 Jahren wurde die Mauer zu Fall gebracht. Angeblich erinnern sich heute noch viele an das Ereignis. Tatsächlich muss diese deutsche Sternstunde in der kollektiven Erinnerung überhaupt erst verankert werden, meint der StZ-Kulturchef Tim Schleider.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Das Gedenken im Gedenkjahr 2014 nimmt kein Ende. Die Kette irgendwie runder Zahlen ist noch nicht abgearbeitet. Erst gab es „100 Jahre Erster Weltkrieg“: ein großes Thema in vielen Artikeln, Büchern und Sendungen eigentlich schon seit vergangenem Herbst. Dann zum 1. September ein jäher Wechsel: „75 Jahre Zweiter Weltkrieg“. Und nun im abschließenden Quartal „25 Jahre Mauerfall“. Keine Frage: soll derartige Fülle nicht zum Gedenktage-Ritual erstarren, müssen wir stets neu entscheiden, welchen Mehrwert all das Erinnern bieten kann auch für die aktuelle Debatte. Sonst bekommt es irgendwann den Charakter eines öffentlich zelebrierten Vokabelaufsagens.

 

Immerhin, bisher ist das in diesem Jahr offenbar gut gelungen, das Interesse des Publikums erstaunlich. Es ist eben mitnichten alles „längst ausdiskutiert“. Nur zwei Beispiele: über die Frage, wer denn nun die maßgebliche Verantwortung am Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 trug, hat sich in den vergangenen Woche eine kontroverse Debatte zwischen den Historikern neu entwickelt. Was die Frage der Verantwortung für den Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 angeht, so gibt es an der Schuld Nazideutschlands heute zwar keinen seriösen Zweifel, aber dafür bewegt in diesem Fall viele die Frage, welche politischen Schlüsse wir Heutigen aus jenen Schreckenstagen zu ziehen haben – siehe die erstaunlich erregte Debatte über die engagierte Rede des Bundespräsidenten Joachim Gauck beim offiziellen polnisch-deutschen Gedenken in Danzig.

Längst Teil persönlicher Geschichtsdeutung

Aber was soll nun im Herbst 2014 werden aus „1989“, der Erinnerung an den Fall der Mauer zwischen Bundesrepublik Deutschland und Deutscher Demokratischer Republik am kommenden 9. November vor 25 Jahren? Just diese „25“ ist ja eine heikle Größe. Anders als bei „75“ (geschweige denn bei „100“) gibt es bei Millionen von Menschen noch eigene Erinnerungen an diesen Tag, so nah oder so fern sie den Ereignissen damals auch gewesen sein mögen. Aber diese Erinnerungen sind schon lange nicht mehr frisch. Sie sind in unseren Hirnen längst überlagert von späteren Geschehnissen und Eindrücken, von nachträglichen Wertungen, vom Einordnen und Relativieren. Das ist der Lauf der Zeit: Obwohl viele von uns selbst dabei waren (und sei’s vorm Fernseher oder beim Lesen der Zeitung), ist der Mauerfall nach 25 Jahren längst Teil einer persönlichen Geschichtsdeutung. Nach den „Schlafwandlern“ also nun die „Mauerwandler“?

Und noch etwas Entscheidendes will erkannt und bedacht sein: „25“ macht unwiderruflich klar, dass es inzwischen eine ganze Generation junger Menschen gibt, die keine eigene persönliche Erinnerung an jene Tage mehr haben können, weil sie nämlich erst später geboren wurden. Die sich eine durch ein hohes Steinbauwerk ummauerte Stadt wie das damalige Westberlin schon deshalb nicht vorstellen können, weil davon auf den Klassenfahrten in die Metropole nur noch bescheidene Reste zu besichtigen sind. Die im Übrigen trotz guten Schulunterrichtes auch mit der Abkürzung „SED“ nichts anzufangen wissen. Diese junge Generation wäre, um mit dem Jubiläum „25 Jahre Mauerfall“ etwas verbinden zu können, angewiesen auf eine womöglich kontroverse, aber immerhin existierende, gesellschaftlich breit verankerte Erzählung davon. Just hier zeigt sich das Kernproblem des „1989“-Jubiläums: diese große Erzählung von jenen Tagen in Deutschland, in der sich breite Kreise der Gesellschaft irgendwie wiederfinden könnten, gibt es nicht. Das ist die Baustelle.