Sie lassen sich das Singen von keinem Popkritiker der Welt verbieten: Unterhaltungskünstler wie Andrea Berg füllen mühelos Konzerthallen.

Stuttgart - Anfang der siebziger Jahre gehörte es in intellektuellen Kreisen zum guten Ton, die Hervorbringungen der Unterhaltungsindustrie zu verdammen. An Theodor Adorno geschult schrieben Doktoranden zuhauf Arbeiten, die den Schlager als „Ware“, als „Opium des Volkes“ bloßzustellen suchten, und der Lyriker Peter Rühmkorf sah in dem, was sich Schlagerdichter für Roy Black oder Mary Roos ausdachten, „verbrecherische Volksverdummung“. Ein Erfolgskomponist wie Jack White begehrte dagegen auf und ließ Tina York das trotzige „Wir lassen uns das Singen nicht verbieten“ trällern, das die mal wieder schweigende Mehrheit der Deutschen mit ins Boot nehmen wollte.

 

Just diese im Nachhinein oft gescholtenen siebziger Jahre bildeten den letzten Höhepunkt, den das Schlagergenre erlebte. Lieder wie „Tränen lügen nicht“, „Ein Bett im Kornfeld“ oder „Der Junge mit der Mundharmonika“ eroberten wie selbstverständlich Spitzenplätze der Verkaufscharts, und keine Grundsatzkritik schien der Popularität der Katja Ebsteins und Juliane Werdings Abbruch zu tun.

Zehn Jahre später sah die bunte Schlagerwelt anders aus: Der angloamerikanische Pop dominierte die Verkaufshitlisten, während die Neue Deutsche Welle die vertraute Schlagerseligkeit mit Liedern wie „Da Da Da“ aufmischte und Haudegen wie Dieter Thomas Heck die Zornesröte ins Gesicht trieb. Prompt verabschiedetet sich dieser 1984 von der „ZDF-Hitparade“. Von da an dümpelte der Schlager künstlerisch vor sich hin – ein Zustand, an dem sich bis heute trotz aller Bemühungen des Mitteldeutschen Rundfunks und trotz der ironischen Renaissance, die Guildo Horn und Dieter Thomas Kuhn einleiteten, nicht viel geändert hat.

Bei Udo Jürgens warten immer alle auf die alten Hits

Wenige Schlagersänger der alten Garde dürfen für sich in Anspruch nehmen, über Jahrzehnte hinweg Konzertsäle zu füllen. Und diejenigen, die treu und ergeben zu Udo Jürgens, Nicole oder Howard Carpendale pilgern, zeigen selten Interesse an deren neuen Liedern, sondern warten sehnsüchtig darauf, bei „Deine Spuren im Sand“ oder „Griechischer Wein“ nostalgisch angehauchte Taschenlampenromantik zu inszenieren. Andere Interpreten wie Marion Maerz siedelten in den Volksmusikstadel über, wo sich die Grenzen zum Schlager mehr und mehr verwischten. Und manche – meist tragische Figuren – tingeln durch die Provinz, um Baumarkteröffnungen mit einem Potpourri angegrauter Hits matten Glanz zu verleihen. Wohingegen diejenigen, die über die notwendige Flexibilität und Intelligenz verfügten, die Register wechselten und wie Jürgen Drews als „König von Mallorca“ einen zweiten Balearenfrühling erlebten.

Ausnahmekünstlern ist es in den letzten zwanzig Jahren allerdings gelungen, mit Schlagermusik große kommerzielle Erfolge zu feiern. Wolfgang Petry zählt dazu, zeitweise auch Claudia Jung und Michelle, wenngleich mit nicht so nachhaltiger Wirkung; zuletzt schließlich Helene Fischer („Mitten im Paradies“), die mit Ausstrahlung wettmacht, was ihren Liedern an Originalität fehlt.

Und dann ist da natürlich Andrea Berg, die allen Anfeindungen zum Trotz jene Nische gefunden hat, in der sich auch mit Schlagern mehr als ein Häuschen in Großburgwedel bauen lässt. Sechsmal mit dem „Echo“, über zehnmal mit Goldenen und Platinschallplatten ausgezeichnet, gehört die inzwischen 46-Jährige aus Kleinaspach in der Großregion Stuttgart zu den wenigen Sängern, die dem schlappen Schlagergeschäft Leben einzuhauchen wissen. Ihre 2001 erschienene „Best of“-CD rangierte über sechs Jahre in den deutschen Charts, ein Erfolg, der die Platzierungen der Beatles oder von Pink Floyd übertrifft. Mit ihren genau dosierten Auftritten füllt Andrea Berg mühelos große Arenen.

Warum ist Lale Andersen schon tot?

Leicht erklären lässt sich dieses Phänomen nicht, denn das Berg-Gesamtpaket setzt sich aus mehreren Elementen zusammen, die belegen, dass es keiner wirklich herausragenden Qualifikationen bedarf, um zur Identifikationsfigur der populären Kultur zu werden. Andrea Bergs fragile Stimme hat nichts Herausragendes, Unverwechselbares an sich – was sofort zu spüren ist, wenn sie „Ein Schiff wird kommen“ nachsingt und man wehmütig die Wiederauferstehung von Lale Andersen und Melina Mercouri herbeisehnt. Auch ihr Repertoire an körperlichen Ausdrucksformen ist limitiert und besteht aus immer gleichen Handbewegungen und Bühnensprints, garniert mit Publikumsansprachen aus dem philosophischen Klippschulseminar.

So bleibt an Außergewöhnlichem vor allem ihr legendäres Outfit. Hohe Stiefel, kurzer Rock und straffe Korsage sind seit jeher das Berg’sche Markenzeichen und geben allen Damen jenseits der vierzig Anregung, was man bei den kommenden Harley-Davidson-Tagen tragen könnte. Andrea Berg ist eine singuläre Erscheinung, und einige ihrer Songs („Du hast mich tausendmal belogen“, „Die Gefühle haben Schweigepflicht“) besitzen inzwischen Evergreencharakter – eine Qualität, die sehr wenige Schlagerproduktionen des letzten Vierteljahrhunderts aufweisen.

Das Gros der Schlagersänger hingegen führt einen erbitterten Konkurrenzkampf und muss sich jeden Auftritt hart erarbeiten. In die Fußstapfen von Wolfgang Petry und Jürgen Drews, deren Produzenten irgendwann erkannten, dass ein proletarischer Duktus – „Unterschichtenmusik“ würde Harald Schmidt sagen – am besten geeignet ist, Erfolge mit deutschem Leichtliedgut zu feiern, treten Partystimmungsmacher wie Mickey Krause („Zehn nackte Friseusen“) oder Michael Wendler. Auch wenn deren Lieder an Einfallslosigkeit schwerlich zu überbieten sind, haben sie ihren zum Schlagerolymp, nein: Schlagerfeldberg strebenden Kollegen voraus, dass sie sich mit zahllosen Discoauftritten einen gewissen Promifaktor erarbeitet haben.

Manchmal wirft auch ein Bürgermeister alles hin

Von beiden wird in zwanzig Jahren vermutlich keiner mehr sprechen. Das durch TV-Castingshows angefeuerte Begehren, mit Schlagern populär zu werden, leidet unter derart düsterer Prognose jedoch nicht. Selbst amtierende Bürgermeister wie Peter Rist aus Reutlingen werfen ihren Job hin, um ihrer Schlagerleidenschaft hauptberuflich nachzugehen. Vielleicht – das sollten die Gegner dieser Musikgattung bedenken – hat Peter Handke doch recht, als er 2005 in seinen Aufzeichnungen „Gestern unterwegs“ schrieb: „Als ob man, wenn man alles durchdacht hätte, wieder bei den Schlagertexten ankommen würde.“

Autor Rainer Moritz leitet das Literaturhaus Hamburg und befasst sich zudem seit vielen Jahren mit dem deutschen Liedgut. In diesen Tagen erscheinen von ihm die Neuauflage des Meeresschlagerbuches „Und das Meer singt sein Lied“ (Mare Verlag) und „Das große Schlagerquiz“ (Carlsen Verlag).