Der Fall Harvey Weinstein ist längst nicht mehr nur eine Sache Hollywoods. Auf Twitter berichten Frauen unter dem Hashtag #metoo von Missbrauchserfahrung. Aber sich nur von Weinstein zu distanzieren, ist viel zu wenig, sagt die StZ-Redakteurin Hilke Lorenz.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Stuttgart - Die Einigkeit ist überwältigend, die Selbstreinigung ist offenbar in vollem Gang. Die Welt stößt den Filmproduzenten US-amerikanischen Produzenten Harvey Weinstein von sich , als sei dies eine Frage des eigenen Überlebens. Kaum haben amerikanische Schauspielerinnen – darunter so prominente Vertreterinen wie Gwyneth Paltrow und Angelina Jolie – offenbart, dass sie durch einen der einflussreichsten Männer Hollywoods sexuell belästigt, manche sogar vergewaltigt worden sind, hagelt es fast minütlich Distanzierungen von Weinstein.

 

Alle distanzieren sich

Sein Bruder feuert ihn aus der gemeinsamen Firma, Gesellschafter schmeißen hin, die Oscar-Akademie streicht ihn von der Mitgliederliste und denkt laut über die Aberkennung der Oscar-Auszeichnungen nach und der französische Präsident will ihm den Titel des Ritters der Ehrenlegion entziehen. Die Obamas haben sich neben vielen anderen ebenfalls von Weinstein distanziert und sein Tun gebrandmarkt. Alles richtig so, all das ist notwendig. Wenn es nicht geschehen würde, wäre alles noch viel schlimmer. Dennoch wirkt vieles, als soll die Vergangenheit getilgt und die Spuren eigenen Versagens beseitigt werden. Es bleibt der bittere Beigeschmack von Aktionismus, wenn mit der Empörung nicht ein neuer Umgang miteinander beginnt. Es sei hier der Vollständigkeit halber jedoch auch erwähnt, dass noch kein Gericht über Weinstein geurteilt hat.

Es geht längst um mehr als diesen einen Mann. Es geht für viele auch darum, ganz schnell auf der richtigen Seite zu stehen. Diesseits und Jenseits des Atlantiks. Weinsteins Geschichte ist auch eine von Kumpanei, Kleinreden, Wegschauen oder vielleicht auch nur von Nicht-Wahrhaben-Wollen und Gutgläubigkeit. Was in den letzten Tagen geschehen ist, ist auch die Reaktion von Getriebenen. Das Geschehen aus Hollywood erfasst über die USA andere Gesellschaften mit einer Wucht, mit der vor Kurzem noch niemand gerechnet hätte.

Nicht jede Distanzierung – auch hierzulande – gelingt wirklich. Eine Aufarbeitung, die sich nur in der Auflistung der Frauen erschöpft, die von Weinstein oder anderen belästigt wurden, liest sich leider wieder nur wie eine männliche Trophäensammlung, die Frauen weiter zu Opfern macht. Das ist billig und rückwärtsgewandt. Denn die mit dem Fall Weinstein begonnene Geschichte lässt sich auch als immer mächtiger werdende Gegenwehr lesen. Als Geschichte von Frauen, die für sich selbst sprechen. Ihre Anklage, die nun endlich gehört werden muss, ist die viel wirkungsmächtigere Botschaft des Weinstein-Komplexes – um ein Vielfaches besser, als nur die Opfer zu zählen.

Wieder entflammt eine Sexismusdebatte

Unter dem Hashtag #MeToo sammelt die Schauspielerin Alyssa Milano seit Montag Erfahrungen von Frauen, die sexuelle Belästigung erlebt haben. Die Resonanz ist riesig, die Bekenntnisse sind erschütternd. Das waren sie auch, als in Deutschland vor vier Jahren die Journalistin Anna Wizorek den Hashtag #aufschrei absetzte. Aber nur für kurze Zeit entflammte im Land eine Sexismusdebatte.

Wie oft wohl noch? Es wäre ein Irrglaube anzunehmen, wir lebten in einer Gesellschaft, deren einziges Problem zwischen den Geschlechtern die Installation einer intersexuellen Toilette sei. Sexuelle Übergriffe jeglicher Art werden durch ungleiche Machtverhältnisse begünstigt. Jeden Tag wird Frauen vor Augen geführt, dass sie mehrheitlich nicht mit am Tisch sitzen, wenn Entscheidungen gefällt werden – auch wenn die Bundeskanzlerin eine Frau ist. Politische und wirtschaftliche Entscheidungsprozesse sind noch immer männlich dominiert. Das macht Männer natürlich nicht zwangsläufig zu Tätern, noch entschuldigt es etwas – aber es bestimmt das Klima, in dem sexuelle Gewalt und Belästigung diskutiert werden. Nur die Vergangenheit zu tilgen, reicht nicht mehr.