1964 wurden hierzulande fast 1,4 Millionen Kinder geboren. Nun feiert der geburtenstärkste Jahrgang seinen runden Geburtstag. Eine Zwischenbilanz von StZ-Autor Michael Ohnewald.

Es hält sich hartnäckig das Gerücht, dass mit einem längeren Stromausfall eine signifikante Erhöhung der Geburtenrate einhergehe. In den USA nennt man entsprechende Resultate deshalb „Blackout Babies“. In hiesigen Breitengraden gab es 1963 keinen nennenswerten Stromausfall, der auch nur annähernd erklären könnte, warum ein Jahr später der geburtenstärkste Jahrgang in der Geschichte der Bundesrepublik das Licht der Welt erblickt hat. Wir waren einfach plötzlich alle da. Genau 1 357 304 von uns. Ein Geburtenrekord, der bis heute unerreicht ist und es auch bleibt. Im vergangenen Jahr sind gerade noch halb so viele Kinder in Deutschland zur Welt gekommen.

 

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1964 geboren: Unser Autor Michael Ohnewald Foto: privat
e Kinder hießen damals noch nicht Justin, Torben, Lennox oder Fiona. Nein, wir Babyboomer heißen Sabine, Andrea oder eben wie ich Michael. Es gab viele Michaels. Mein Eltern hatten wohl Angst, dass ich in der schieren Masse untergehen könnte. Deshalb nannten sie mich Michael-Bindestrich-Steffen. So war ich keiner Verwechslungsgefahr ausgesetzt.

Zum Alleinstellungsmerkmal unserer Geburtsjahres trug der Umstand bei, dass wir 19 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der Wiege lagen, umgeben von wohlgenährten Papas und Mamas, die noch keine Verhütungspillen schluckten, dafür aber HB rauchten und orangene Autos fuhren, farngrüne Wählscheibentelefone nutzten und im Übrigen voller Elan waren, weil es beständig aufwärtsging im Land. Die Wirtschaft brummte, und Züge voller Gastarbeiter hielten an den Bahnhöfen. Das sind Zutaten für Zuversicht, und so brauchte es für unsere Erzeuger keinen Stromausfall, sondern allenfalls ein paar Songs von Rex Gildo und Gitte, von Billy Mo und Cliff Richard und natürlich von Elvis Presley, der neun Monaten vor unserer Zeit einen Hit hatte, den unsere Eltern wohl allzu wörtlich nahmen: „Kiss me quick“.

Bluna und Brauner Bär

Das Resultat waren wir, die Babyboomer. Jeden Tag kamen im Schnitt 3718 von uns an, jede Stunde 154. Rums, da bevölkerten wir Deutschland und wuchsen mit einem Jahrgang auf, dessen prägendes Element darin bestand, dass man immer einer unter vielen war. Gedüngt von Eltern, die uns werden ließen, reiften wir heran zu einer Generation, in der man gefahrlos umsteigen konnte von der verschlissenen Lederhose auf Röhrchenjeans von Fiorucci, von der zweitaktigen Vespa auf die viertaktige Honda und von Barry Manilow („Mandy“) auf Freddy Mercury („We will rock you“). Wir hatte keine Frischluftallergien, spülten unser Geschirr manuell mit Pril und begnügten uns mit drei TV-Programmen, wobei wir das Zappen noch nicht kannten, weil man zum Umschalten noch aufstehen musste. Unsere Helden hießen Flipper, Bruce Lee oder Little Joe von Bonanza. Wir tranken Bluna und kauften uns Eis namens Brauner Bär.

Das Äußere korrespondiert mit dem Inneren. Unsere Prägungen machten uns offen für viele Farben und Schattierungen. Unsere Formung der ungeheuren Masse, die sich in Schulklassen ebenso offenbarte wie später in den überfüllten Lehrsälen der Hochschulen, sensibilisierte für ein tolerantes Miteinander. Wir blieben weitgehend unsichtbar und reihten uns ein. Und wenn wir doch mal aus der Reihe tanzten, dann hatten das andere in aller Regel schon vorher getan.

Bei uns Babyboomern setzte sich eine schlichte Erkenntnis durch, die einem half, die Dinge besser handhaben zu können, nämlich dass die Wahrheit selten so oder so ist, sondern eher so und so. Damit kam man ganz gut hin und recht gut durch. Mit den Jahren wob sich in unser Leben eine Identität, die sich nicht darauf gründete, besonders festgelegt, besonders eingefahren oder besonders politisch zu sein. Die 68er katapultierten das Private in die Politik, wir machten es umgekehrt.

Heute sind wir faltige Riesenbabys

Als wir das Abitur ablegten, sagten uns die Auguren harte Zeiten voraus. Die Rede war von der großen Akademikerschwemme und davon, dass wir alle früher oder später auf der Straße säßen. Umringt von Pessimisten gingen wir im Rudel unseres Wegs. Das hat uns geprägt und nebenbei auch ganz gut auf die Welt von morgen vorbereitet, in der die einzige Konstante der Wandel ist. Wandel ist uns nicht fremd und macht uns auch keine Angst, denn in uns Babyboomern wohnt seit je die Zuversicht. Auch damit kann man Karriere machen und zu einem Menschen werden, an dem Schwiegerväter und Schwiegermütter ihre Freude haben – bei einigen ganz besonders. Jürgen Klinsmann ist ein 64er und Jan Josef Liefers. Und Nicole, welche noch bartlos den Grand Prix gewann mit einem Refrain, der eigentlich fast alles über uns sagt: „Ein bisschen Frieden / ein bisschen Sonne / für diese Erde / auf der wir wohnen . . .“

Das mit dem Frieden war uns tatsächlich wichtig. Wir sind in jungen Jahren nicht nur vielen Menschen begegnet, sondern auch vielen, die es mal so und mal so probiert haben. Wir machten um sie kein großes Aufhebens, wie auch sie um sich kein großes Aufhebens machten. Nach dem Zivildienst sind wir in der Clique mit den lesbischen Mädels aus der Wohnung nebenan in den Urlaub gefahren. Die waren, wie sie waren. Und wir waren anders. Oder umgekehrt. Wir waren uns treu in der Unauffälligkeit und auch in der kollektiven Unaufgeregtheit. Das hat uns bei manchen Gelehrten den Ruf eingetragen, wir stünden für nichts und seien vor dem Weltlauf ohne Verdienste geblieben. Tatsächlich kann es auch ein Verdienst sein, gewisse Dinge nicht getan zu haben. Und darin, gewisse Dinge nicht getan zu haben, waren wir gemessen an einigen unserer Vorfahren schon mal recht gut.

Lange her. 1964 geboren, das heißt heute 50. Die Babyboomer sind faltige Riesenbabys geworden, deren Haar sich partiell lichtet. Mit 50 verdrängt man gerne, was die Zeit mit sich bringt. Früher hat uns das ständige Werden und Vergehen der Dinge nicht groß interessiert. Wer beschäftigt sich schon gerne vor der Zeit mit der Endlichkeit derselben? Wir sind doch jung! Oder? Realistisch betrachtet sind wir Babyboomer freilich nicht mehr so ganz im Frühling, es geht eher Richtung späterer Sommer. Das wird uns morgens beim Frühstück bewusst, wenn wir wie selbstverständlich bunte Pillen gegen kleinere Malaisen neben der Zeitung liegen haben, an die wir noch immer glauben und in der wir früher allenfalls die Namen in den Todesanzeigen überflogen haben. Heute lesen wir zuerst die Geburtsdaten der Verstorbenen und danach die Namen, um festzustellen, was wir eigentlich längst wussten, nämlich dass die Einschläge näher kommen.

Wir vermessen uns ständig

Mit der Zeit ist das ohnehin so eine Sache. Wenn man älter wird, fühlt sie sich anders an. Sie scheint irgendwie schneller zu vergehen als früher. Man hat das Gefühl, dass sie knapp werden könnte. Deshalb versuchen wir Babyboomer besonders viel in unsere Tage zu packen. Wir vermessen uns ständig, wenn wir arbeiten, wenn wir unterwegs sind, wenn wir joggen, und reden uns ein, dass wir Macht hätten über die Zeit, was tatsächlich ein Trugschluss ist.

Für drei Viertel der Arbeitnehmer gibt es heute keinen klassischen Feierabend mehr. Sie sind rund um die Uhr einsatzbereit und medienkonvergent und verbunden mit WhatsApp und permanent Mail-empfänglich und Facebook-registriert, auf dass sie in der Schlange beim Metzger noch kurz ihren Senf zum Weltgeschehen posten. „Find ich gut. Bin jetzt da. Gehe dorthin. Atme ein. Atme aus.“ Bekömmlich ist das nicht. Immer mehr von uns 64ern gehen in der permanenten Erreichbarkeit, Kurzatmigkeit und Einsatzbereitschaft kaputt. Wir Babyboomer sind schon ein seltsames Völkchen! So viele und irgendwie doch nicht viele genug, um alles zu schaffen.

Dieser Befund sagt einiges über unsere innere Balance aus. Könnte gut sein, dass wir es mit der Unsichtbarkeit im Laufe der Jahrzehnte ein wenig übertrieben haben. Womöglich haben wir uns zu sehr eingerichtet darin, alles irgendwie laufen zu lassen. Die größte Schwäche des stärksten Jahrgangs der deutschen Nachkriegszeit liegt darin, dass er träge geworden ist, wenn es um ihn geht, um seine Sache und auch um seine Werte.

Wir halten die Gesellschaft am Laufen

Ein bisschen ist es bei uns wie in jener hübschen Geschichte über Max Planck. Der Wissenschaftler hat 1918 den Physik-Nobelpreis bekommen hat und wurde danach häufig eingeladen, um über seine Forschung zu reden. Max Planck hielt stets den gleichen Vortrag und wurde immer von seinem Chauffeur begleitet, der ihm eines Tages offenbarte, dass er die Rede des Chefs bereits auswendig könnte. Daraufhin beschloss Max Planck vor der nächsten Veranstaltung einen heimlichen Rollentausch. So stand der Chauffeur in gutem Tuch auf der Bühne, während Max Planck im Gewand des Fahrers in der vorderen Reihe Platz nahm. Der Vortrag lief gut. Im Anschluss meldete sich allerdings ein Professor mit einer Frage an den gelehrten Kollegen, woraufhin der Redner entgegnete: „Mein Herr, ich habe gedacht, dass wir hier vor einem hochgebildeten Publikum wären. Diese einfache Frage kann sogar mein Chauffeur beantworten!“

Vielleicht sind wir in der Generation 64 zu viele Chauffeure geworden und gebärden uns zu selten als Gelehrte, die wirklich etwas zu sagen haben. Jedenfalls ist das mein Eindruck. Ich werde in diesem Jahr 50 und habe zunehmend das Gefühl, dass sich Menschen um mich herum ständig exponieren, mir ihren Plan vom Glück aufnötigen oder zumindest meinen infrage stellen.

Vor einigen Wochen hat es mich vor dem Fernseher beim Betrachten einer Talkshow wieder einmal innerlich an den Rezeptoren des Selbstwertgefühls gekitzelt. Es ging um sexuelle Vielfalt im Unterricht. Einer der Teilnehmer in der Runde sagte, dass sein persönliches Idealbild von Familie aus Mutter, Vater und Kindern bestehe und hatte in der Runde einen äußerst schweren Stand. Mit diesem Bekenntnis, so wurde ihm vorgehalten, diskriminiere er Andersdenkende in ihrem Lebensentwurf.

Die Lauten haben die Deutungshoheit

Darf man so etwas nicht mehr sagen? Ich hatte mich über die Sendung still gegrämt. Wie mir scheint es durchaus einigen Babyboomern ergangen zu sein, was ich am nächsten Tag beim Gespräch mit gleichaltrigen Freunden bestätigt fand. Fast alle hatten die Sendung gesehen und sich geärgert. Keiner hatte seine Stimme erhoben oder zur Feder gegriffen.

Das ist nicht unproblematisch. Ich sage das durchaus selbstkritisch als Teil einer gewaltigen Bewegung, an der eigentlich keine Politik vorbei gemacht werden kann. Wir Babyboomer halten Gesellschaft und Wirtschaft am Laufen. Keine Generation zahlt so viel in den Pool der Rentenkasse ein und wird darin so wenig baden wie wir. Und was machen wir daraus? Wir gerieren uns als systemrelevante, aber allzu stille, fast gleichgültige Generation, jedenfalls in Summe. Und überlassen den Lauten die Deutungshoheit.

Rosa Luxemburg hat früher Toleranz gegenüber Andersdenkenden angemahnt. Heute, so hat man manchmal den Eindruck, hapert es eher an der Toleranz gegenüber Nicht-Andersdenkenden. Warum kommt man sich in diesen marktschreierischen Zeiten fast schon mittelalterlich vor, wenn man den Fernseher einschaltet, wo die Wortführer der Andersdenkenden omnipräsent sind und ihre Lebensentwürfe und Überzeugungen über alles stellen, während dem eher unmissionarischen Babyboomer als Zuschauer das Bewusstsein fehlt, eine Haltung der Masse zu postulieren, die bei Gott keine Ressentiments gegen Minderheiten hegt, sehr wohl aber Ressentiments gegen Eiferer?

Es ist auch mit 50 noch nicht zu spät. Aufgewacht, ihr Babyboomer! Happy Birthday.