Der Degerlocher Haigst hat allerlei Geschichten parat. Gesammelt haben sie Stefan Clarenbach und Ulrich Schülke. Bei einem Vortrag sind sie mit ihren Zuhörern durch das beschauliche Viertel spaziert.

Degerloch - Die Fotos schwarz-weiß, die Postkarten koloriert: Es hätte ein nostalgischer Ausflug in die Geschichte werden können. Doch der Vortrag, den Stefan Clarenbach auf Einladung des Degerlocher Frauenkreises im Gewölbekeller des Helene-Pfleiderer-Hauses anbot, war anschaulich und lebendig. Bei Tee und Hefezopf nahm er seine Zuhörerinnen und Zuhörer mit auf einen historischen Spaziergang über den Haigst, das vergleichsweise junge Degerlocher Viertel.

 

Der Referent, von Beruf Physiker, lebt hier seit 1989. Gemeinsam mit Ulrich Schülke hat er mehrere Monate lang recherchiert, um ein Buch über sein Wohnviertel zu schreiben. Auf der Grundlage dieser Recherchen bot er einen Blick in 120 Jahre Historie. „Eine ruhige Geschichte“, meinte der Referent, denn der Bauboom der Gründerzeit habe die Hügelkuppe sehr spät erreicht. Erst die 1826 gebaute Neue Weinsteige schuf die nötigen Voraussetzungen.

Die ersten waren die Ausflügler

Doch zuerst kamen die Ausflügler, wie die Postkarte „Gruß von der Werahöhe“ zeigte. Es entstanden Aussichtsplattformen, die den Blick über Weinberge und Obstwiesen schweifen ließen. Selbst als die wohlhabenderen Stuttgarter in den Luftkurort Degerloch zogen, gab es am Haigst noch nicht viel mehr als das zu sehen. Die 1884 eröffnete, damals dampfgetriebene Zahnradbahn aber brachte die Besucher aus dem Tal, es entstanden die für die Kaiserzeit typischen Ausflugslokale. Von 1895 an wurde auch der Haigst zum Wohngebiet.

Zur Namensgebung gibt es eine Anekdote: Ein Geometer erkundigte sich, welchen Namen er eintragen solle. Die vornehmen Stuttgarter sagten Högscht, die Degerlocher Haigscht (beides steht für „Höhe“). „Der Beamte trug die seiner Meinung nach verbesserte Form Haigst ein“, berichtete Clarenbach. Es gibt allerdings ältere Landkarten, die diesen Namen bereits verzeichnen.

Eine Kirche mit Transformatorenhäuschen

Der von Stefan Clarenbach beschriebene Spaziergang beginnt an der Haltestelle „Haigst“ und an der evangelischen Kirche, die erst 1953 gebaut wurde. Nötig geworden war der Bau wegen des Zuzugs in die Wohnblöcke mit den ersten Eigentumswohnungen der Bundesrepublik. Das Transformatorenhäuschen der Zacke, das hier stand, war anfangs in die Kirche integriert.

„Unser San Francisco“

In der Nachbarschaft wohnte Max Bense, der streitbare Philosoph und Schriftsteller, bekannt für seine provokanten Vorlesungen an der Stuttgarter Uni. Von ihm stammt die Beschreibung des Haigst als „Unser San Francisco“. Der Santiago-de-Chile-Platz dagegen geht auf einen Gemeinderat zurück, der Honorarkonsul von Chile war. Aus einer alten Mostwirtschaft an der Alten Weinsteige wurde 1991 das Restaurant Wielandshöhe des Kochs, Schriftstellers und Musikers Vincent Klink. Der Name ist als eine Würdigung des Aufklärers Christoph Martin Wieland zu sehen. Trotz gründlicher Recherchen konnte Stefan Clarenbach jedoch nicht herausfinden, wo genau das Dinosaurier-Skelett gefunden wurde, das ein Zigarettenfabrikant im Garten seiner Schwiegereltern ausgebuddelt haben will. Woher das Tintenviertel seinen Namen hat, ist dagegen klar: Hier wohnten Lehrer und Professoren.

Ein physischer Rundgang wäre sehr viel anstrengender

Die Besucher im Gewölbekeller zeigten sich interessiert an den Ausführungen des Referenten und steuerten eigene Erinnerungen bei. Würde Stefan Clarenbach auch Führungen anbieten? „Ja, gerne“, sagte dieser, „aber das wird anstrengend. Der Haigst ist steil“. Wer sich diese Anstrengung sparen möchte, hat ab Ende November Gelegenheit, Stefan Clarenbachs in Degerloch erschienenes Buch zur Hand zu nehmen und als Lehnstuhlreisender über die Hügelkuppe zu wandern.