In politisch unruhigen Zeiten reaktiviert RTL den „heißen Stuhl“, um im Talkshow-Geschäft wieder Fuß zu fassen. Zu Beginn nimmt dort der Sozialdemokrat Thilo Sarrazin Platz, der für den heutigen Erfolg der Rechtspopulisten einst das Fundament gelegt hat.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Die Kölner Silvesternacht und ihre Folgen – „es wird Zeit, dass wir darüber reden“, betont RTL-Moderator Steffen Hallaschka im Trailer der neuen Reihe „Der heiße Stuhl“. Das kann man wohl sagen, elfeinhalb Monate nach Silvester. Es ist ja auch schon so viel geredet worden darüber – vor allem in den Talkshows des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. RTL hat den Populismus-Trend verpasst und springt erst spät im Jahr auf den Zug auf.

 

Zur Premiere „Wie sicher ist Deutschland?“ setzt sich Thilo Sarrazin auf den Stuhl, der eher einem Kunstobjekt ähnelt. Dabei hätte der 71-Jährige dies gar nicht mehr nötig. Er kann gelassen seine Bücher schreiben, Millionenauflagen erzielen, satte Tantieme einstreichen und seine diversen Altersbezüge obendrauf genießen. Ansonsten kann er hinter der Hecke beobachten, wie die AfD-Rechtspopulisten heute ernten, was er einst gesät hat an Stimmungsmache gegen Ausländer.

„Islamophobes Weltbild“

Weiter entwickelt hat sich Sarrazin demnach nicht. Der frühere Manager von Bahn und Bundesbank bestreitet praktisch die ganze Talkshow mit seiner alten These: „Türken und Araber sind an der Spitze der Kriminalität in Deutschland.“ Dies sei „ein Fakt“, sagt er immer wieder, als ob er dadurch glaubwürdiger wirkte. Wer es bestreite, wolle lediglich in seiner „Scheinwelt“ weiter leben. Dieser Vorwurf hält den Grünen-Abgeordneten Kai Gehring nicht davon ab, den Provokateur als „postfaktischen Angstmacher“ hinzustellen, der sein „islamophobes Weltbild“ pflege. Als ob er diese Kritik bestätigen will, sagt Sarrazin, dass in diesem Jahr 1,3 Millionen Flüchtlinge nach Deutschland gekommen seien. Gemeint war aber der Zeitraum ab Anfang 2015, wie er sich später korrigieren muss.

Mit der Talkshowprominenz in ARD und ZDF kann RTL keineswegs mithalten: Der muslimischen Buchautorin Khola Maryam Hübsch kommt die Rolle zu, Sarrazin zu provozieren. „Sie haben dazu beigetragen, dass dieses Land vergiftet wurde“, sagt sie. Die Schauspielerin Annabelle Mandeng ermahnt das Publikum zu gegenseitigem Respekt. „Nicht alle Flüchtlinge sind Sexualverbrecher“, betont sie. Und Arnold Plickert, Chef der Polizeigewerkschaft (GdP) in Nordrhein-Westfalen, bekennt einen Vertrauensverlust für seine Kollegen direkt nach der Silvesternacht. Dann behauptet er: „Schon mit den Karnevalseinsätzen haben wir verlorenes Vertrauen wieder zurückgewonnen.“

Sarrazin möchte mal ununterbrochen reden

Gegen Ende gehen Sarrazin und Gehring kurz in den Nahkampf: „Sie haben Berlin mit ihrem Rotstift unsicherer gemacht“, attackiert der Grüne. „Völliger Unsinn“, keilt der Sozialdemokrat zurück. „Sie haben einfach keine Ahnung.“ Er habe die Zahl der Streifenpolizisten auf Hamburger Niveau angehoben und die die Zahl der „Sesselfurzer“ in den Verwaltungen verringert. Ansonsten raunt er Hallaschka mehrfach zu, dass er mal länger als eine Minute ununterbrochen reden möchte. Unter Druck kommt er jedoch selten. Vielmehr ist aus dem „heißen Stuhl“ eine bequeme Sitzgelegenheit geworden, die den Protagonisten kaum noch fordert.

In den 80er und frühen 90er Jahren war „Der heiße Stuhl“ bei RTL eine feste Größe. Da lief die Sendung im Krawallformat noch alle zwei Wochen. Es wurde gejohlt, geschrien und gepöbelt – ein Tollhaus. Auf das Publikum wollte man in der Neuauflage nicht verzichten, Emotionen sind gefragt. Abgesehen von anstrengendem Dauergeklatsche, hämischem Gelächter und vereinzelten „Buh“-Rufen scheint es mittlerweile aber gereift. Außerdem soll das Format nur sporadisch eingesetzt werden.

Vor 24 Jahren saß Angela Merkel auf dem Stuhl

Schon zur Blütezeit des „heißen Stuhls“ steckte RTL im Dilemma: Politisch differenzierte Diskussionen konnten sich in der Geschichte des Senders nicht etablieren. Daher darf man sich heute auch nicht wundern, wenn die Menschen in den Internetforum ihre eigene, teils faktenfreie Meinung bilden.

Bezeichnenderweise hieß das Thema der Sendung am 15. September 1992: „Zeigt das Fernsehen zuviel Gewalt?“. Befragt von Olaf Kracht nahm keine Geringere als Angela Merkel – damals Bundesministerin für Frauen und Jugend – auf dem „heißen Stuhl“ Platz. Die These der damals 38-Jährigen: Die Gesellschaft verroht durch Gewalt im Fernsehen. Damals verteidigte sie ihre Haltung gegen den Regisseur Christoph Schlingensief und irgendwelche unbekannten „Experten“ – allesamt Krakeeler. „Ich bin dagegen, dass an einem Tag 70 Morde im deutschen Fernsehen als Widerspiegelung der Realität gezeigt werden“, sagte Merkel damals. Ihr hat der Auftritt offensichtlich nicht geschadet.