Der Stuttgarter Psychiater Reinhart Lempp hat einst eine ganze Fachrichtung begründet. Mit seinen Studien entfachte er immer wieder gesellschaftliche Debatten.

Stuttgart - Bis zuletzt ist er voller Schaffenskraft gewesen. Unermüdlich hielt er Vorträge und veröffentlichte Aufsätze, schrieb Internetblogs zu aktuellen gesellschaftlichen Fragen und verfasste ein Sachbuch über die „Generation 2.0“ – jetzt ist Reinhart Lempp, der international renommierte Pionier der Kinder- und Jugendpsychiatrie, mit 88 Jahren in seiner Heimatstadt Stuttgart gestorben. Wie seine Familie mitteilte, ereilte ihn der Tod bereits Anfang der Woche.

 

Reinhart Lempp, 1923 in Esslingen als Sohn des Architekten und Bonatz-Schülers Rudolf Lempp geboren, studierte in Tübingen Medizin und entschied sich für die Weiterbildung in Psychiatrie, die er 1957 abschloss. Das Fach Kinder- und Jugendpsychiatrie gab es noch nicht, doch Lempp wurde zu einem seiner Pioniere und 1971 zu einem seiner ersten Lehrstuhlinhaber, eben an der Uni Tübingen. 1978 erschien seine Monografie „Frühkindliche Hirnschädigung und Neurose“, ein differenziertes Erklärungsmodell für einen bestimmten Typus schwieriger Kinder, bei denen heute nur noch, unzulässig simplifizierend, von ADS gesprochen wird. Lempp aber baute schon früh Brücken zur Sozial- und Familienpolitik, zu Justiz und Pädagogik. Er kam wie kein anderer seiner Kollegen bei Politikern und Medien an und wurde von ihnen verstanden.

Er modernisierte das Scheidungsrecht

Für immer wird das Scheidungsrecht mit seinem Namen verbunden bleiben. Schon 1964 trat er in der „Neuen Juristischen Wochenschrift“ dafür ein, Kinder bei Scheidungen zu fragen, bei welchem Elternteil sie leben möchten. In der Reform des Sorgerechts wurde dann zehn Jahre später das Kindeswohl aufs Engste mit dem Kindeswillen zusammengefügt. Ähnlich fundamental waren seine Arbeiten zu jugendlichen Tötungsdelikten. Lempp beschrieb die Sonderstellung dieser Taten als Kurzschlussreaktion ohne eigentlichen Krankheitswert, als situative Überforderung, häufig ausgelöst durch eine Vortat, die innerlich nicht verkraftet wurde, nachzulesen in dem 1977 erschienenen Grundlagenwerk „Jugendliche Mörder“. Auch seine reichen forensischen Erfahrungen hat Lempp 1983 als Erster seines Fachs in einem Lehrbuch versammelt.

Sein Wirken an der Tübinger Hochschule über Jahrzehnte hinweg war stilbildend für eine offene, interdisziplinäre Forschergemeinschaft aus Pädagogen, Juristen und Kriminologen und hob sich insofern stets von anderen medizinischen Schulrichtungen ab, welche die Forschung stärker den Naturwissenschaften verpflichtet sehen wollten. Die unter Lempp entstandene Gemeinschaft aus Sozialwissenschaften und Psychiatrie wirkt bis heute nach: Der deutsche Südwesten ist bekannt für das gelungene Zusammenwirken von Jugendpsychiatrie und sozialen Diensten.

Sein Freund Loriot illustrierte die Bücher

So verwundert auch nicht, dass Lempp zu den wenigen Ärzten seiner Generation gehörte, die unangenehmen Fragen zum Holocaust nicht auswichen. Seine Arbeiten zu diesem Thema, etwa das 1979 erschienene Buch über „Extrembelastungen im Kindes- und Jugendalter“, wurden damals kaum zur Kenntnis genommen. Es ist beklemmend, sich daran zu erinnern, aber damals war noch niemand sonderlich daran interessiert, dass die als Kinder den Konzentrationslagern entronnenen Menschen bis ans Ende ihres Lebens psychisch und körperlich unter den Erinnerungen litten.

Und noch etwas zeichnete Lempp aus: Kaum jemand hatte ein so gutes Gespür für die Popularisierung seiner Themen wie er. Der hübscheste Beleg, wie berückend einleuchtend er zu formulieren und sein Publikum zu erreichen verstand, sind die drei von seinem lebenslangen Freund Loriot mit Witz illustrierten Elternratgeber: „Kinder für Anfänger“, „Eltern für Anfänger“ und „Großeltern für Anfänger“.

Nach seiner Emeritierung 1989 zog der vielfach geehrte Lempp in das heimatliche Stuttgart und setzte seine publizistische, forensische und therapeutische Arbeit unvermindert fort. Und noch immer stand er in einem engen Austausch mit Kollegen und Schülern. Sein überraschender Tod berührt drei ihm nachfolgende Wissenschaftlergenerationen, die sich nichts sehnlicher wünschen, als dass Lehrer seines Schlags – liberal, gelassen und standfest, mit offenem Blick, gesegnet mit Humor und ohne wissenschaftlichen Dünkel – nicht aussterben, sondern an deutschen Hochschulen eine Zukunft haben mögen.