Uraufführung mit allen Bühnenmitteln: In Frankfurt inszeniert Johannes Erath das surreale Musiktheaterstück „Der Mieter“ von Arnulf Herrmann.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Auf dem Weg vom Hauptbahnhof zur Oper nochmal schnell rein in einen Frankfurter Abendverkauf, und wie man so an der Kasse steht, räumt der Mann, der die Palette schiebt, versehentlich einen Sechserpack Weizenbier bodenwärts ab – armer Kerl. Das klirrt gewaltig. Man hat also, bevor es artifiziell wird im Theater, noch einmal gehört, wie Glas sehr realistisch zu Bruch geht. Umso überraschender ist, wie dieses Geräusch, das jeder zu kennen meint, wenig später im neuen Musiktheaterwerk des Heidelberger Komponisten Arnulf Herrmann, Jahrgang 1968, aufgenommen beziehungsweise transformiert wird und sich während der knapp zweistündigen Uraufführung von „Der Mieter“ im Bewusstsein förmlich einritzt: als vielfältig gebrochener Klang. Als Klänge. Wie Widerhaken wirken die im Hirn. Nicht unangenehm, aber irritierend schon. Schön auch.

 

Die Glasgeräusche – Ritzen, Schaben, leislautes Zersplittern, in der Frankfurter Oper herumgereicht über vierzig im Raum verteilte Lautsprecher – grundieren Herrmanns anschwellende, bläserlastige und perkussive Partitur. Gleich ihrem Erfinder, der physiognomisch wenig mit einem anämischen Komponistentypus zu tun hat – Herrmann könnte vom Äußeren her auch Fußballtrainer sein –, hat sie auf kunstvolle Weise etwas Sportives, ohne je angestrengt zu wirken. In Klein- und Kleinstschritten, mikrotonal, kreist sie um ihre Themen: Liveelektronik und Klangkörper, das Frankfurter Opern- und Museumsorchester unter Kazushi Ono, ergänzen sich als Spielmacher. Eine Aufführung aus einem Guss. Kleines Wunder bei dem Thema.

Paris in Zeiten der Wohnungsnot

Während der Einführung hebt Herrmann hervor, dass er für die Frankfurter Auftragsarbeit freie Hand gehabt habe. Sujet, Durchführung, Casting – keiner hat ihm rein geredet. Wie das dann ging, muss man erläutern: Herrmann hatte „Le Locataire chimérique“ („Der chimärische Mieter“) von Roland Topor gelesen. Bizarrer Autor und Zeichner, über den Georg Hensel einmal treffend geschrieben hat, er sei der „Sonntagsmaler einer heillosen Welt“. Topors Story ist eine so einfache wie abgründige Geschichte. Roman Polanski hat sie in „The Tenant“ mit sich selbst in der Hauptrolle verfilmt. Von all dem jedoch nimmt Herrmann lediglich ein Motiv, ändert die Namen der Vorlage und lässt den Text nicht dramatisieren, sondern überschreiben von einem anderen ungewöhnlichen Mann, dem österreichischen Bachmann-Preisträger Händl Klaus, als Librettist schon für Franui und vor allem für Georg Friedrich Haas („Koma“, uraufgeführt in Schwetzingen) unterwegs gewesen.

Händl Klaus nun meditiert eher über Partikel von Topor als über dessen Prosa. Im Text verschwimmt die Vorlage bis zur Unkenntlichkeit. Übrig bleiben monologische Splitter: Ein junger Mann, Georg, findet in Zeiten der Wohnungsnot – die Szene ist Paris, mit Passanten, Vermietern und Kellnern aus den Fifties – ein möbliertes Zimmer. Die Vormieterin, Johanna, war eine Selbstmörderin und ist durch ein Glasdach gesprungen. Georg wird das Opfer der anderen Mieter, die ihn als Hausgenossen zu laut finden. Vielleicht wird er auch sein eigenes Opfer, denn kaum ist er eingezogen, hört er Stimmen, vor allem die von Johanna. Wie eine Sirene lockt sie auch Georg in den Abgrund. Unsicher über seine eigene Identität, verwandelt er sich Johannas Ich an. Georg stirbt an vielerlei: an äußerem Druck und innerer Ausweglosigkeit. Allerdings liest sich das alles viel schwerer und schwärzer, als es auf der Bühne erscheint.

Die Musik ist immerfort am Schwanken

Der am Werden der Komposition beteiligte Regisseur Johannes Erath entwirft bereits mit seinem filmischen Intro eine hypersurreale Szenerie, die auch dann nichts von ihrem Flair verliert, wenn auf der Bühne gespielt wird. Erosion der Handlung und Deformation des Protagonisten sind eins. In den vergleichsweise konventionellen Momenten erinnert vor allem der Chor an Bewegungsmuster, die der Regisseur Achim Freyer etabliert hat. Es wohnt den Haus- und Cafészenen, wo Georg stets das bekommt, was er nicht will, eine grimmige Komik inne. Aber eine eigene Formsprache hat Erath allemal. Sobald er die Welt auf der gewagt konstruierten Bühne in eine Schräglage gebracht hat, in der am Schluss kopfüber gesungen werden muss, ist es, als hebe die Regie die klassische Trennung im Raum auf. Es kommt einem zunehmend seltsam vor, dass man immer noch sitzt, während die Dinge vor einem schwebend entschwinden – oder sich eben materialisieren, wo zuvor noch nichts war. Wohlgemerkt: das ist keine Zauberei, sondern Erzählprinzip – und zukunftsträchtig.

Überhaupt hat der Abend etwas Visionäres, denn er beruht auf einer Musik, die sich durch die Mikrotonalität das Schwanken verordnet hat, ohne die Richtung zu verlieren. Herrmann überreizt gekonnt, wie schon in seinen Werken für Donaueschingen oder die Münchner Biennale, das Wahrnehmungsspektrum. Er fordert viel, aber füttert einen auch. Dreivierteltakte gehören zur Grundausstattung – doch neuer waren Walzer noch nie. Zudem singen Anna Petersen (Johanna) und Björn Bürger (Georg) ihre metrisch verschobenen „Bandwurmmotive“ (wie Petersen sagt) mit einer Selbstverständlichkeit, als seien sie Chansons. Nicht zu vergessen der identifikatorische Moment: Hinter dieser Uraufführung stand offensichtlich der ganze Apparat der Oper Frankfurt mit Begeisterung. So etwas ist ansteckend. Wer Oper nicht nur anders, sondern ungewohnt ganz anders haben will: Here we go!