Seit zweieinhalb Jahren jagt die Polizei die Mörder Maria Bögerls. Im September wurden im ZDF nochmals große Hoffnungen auf einen Ermittlungserfolg geweckt. Nun scheint es, als habe die Sonderkommission „Flagge“ ihre letzte Karte gespielt.

Politik/Baden-Württemberg: Rüdiger Bäßler (rub)

Heidenheim - Ein Herr mit Hut und Hund, freundlich grüßend auf seinen Spaziergängen, so jemand könnte es gewesen sein. Ein Mörder, maskiert nicht durch eine Wollmütze, sondern durch ein allgegenwärtiges Lächeln, einen Anschein von Geschäftigkeit, ein Grüßgott hier und da. Die Polizei sucht nach so einer zweigesichtigen Person, nach einem Schauspieler, einem „Unauffälligen“, wie Markus Martz sagt, der stellvertretende Leiter der Sonderkommission „Flagge“. Zeugen fordern er und seine Kollegen immer wieder auf, ihre Erinnerungen „nicht zu filtern, sondern alles zu erzählen“.

 

Zeugen, die sich noch nicht gemeldet haben, sind schon lange die zentrale, womöglich auch letzte Hoffnung der Sonderkommission, die, wie ihr Leiter Volker Zaiß sagt, seit der Entführung Maria Bögerls aus ihrem Wohnhaus am 12. Mai 2010 „alles versucht“ hat. Wohl noch nie in der Kriminalgeschichte ist eine Öffentlichkeitsfahndung intensiver und suggestiver betrieben worden als diesmal.

Die Fernsehsendung Aktenzeichen XY vom 5. September hob dieses Mittel der Tätersuche auf die höchste bisher gesehene Ebene. Den in Teilen fiktionalen 30-Minuten-Film über den Ablauf der Entführung und Ermordung der Heidenheimer Bankiersehefrau Maria Bögerl verfolgte ein Millionenpublikum, danach gingen mehr als 500 neue Hinweise ein. Der Film lieferte nicht nur eine Reihe neuer Erkenntnisse der Polizei, allem voran deren Überzeugung, dass es sich um eine aus Ostwürttemberg, genauer dem Härtsfeld, stammende Tätergruppe handeln müsse. Die Fernsehsendung vermittelte noch einen Subtext, der sich an die flüchtigen Mörder zu richten schien: Wir sind euch dicht auf den Fersen, lautete er. Wir kriegen euch.

Glaube an baldige Lösung schwindet

Nun, da die neuen Hinweise in ihrer Mehrzahl überprüft wurden, da das zweite Jahr nach dem spektakulären Mord sich zum Ende neigt, ist vom vehement erzeugten Glauben an die baldige Lösung des Falls nicht mehr viel übrig. Volker Zaiß will zwar keine Zweifel dulden, er sagt: „Wir sind nach wie vor der Überzeugung, dass wir den Fall lösen können.“ Die Frage ist aber, wer ihm dabei noch wie lange folgt. Mit noch 16 Beamten, davon sieben mit Sitz bei der Landespolizeidirektion Stuttgart und neun bei der Polizeidirektion Heidenheim, ist die Sonderkommission aktuell besetzt. In der Spitze waren einmal mehr als 80 Sonderfahnder eingesetzt. Werde weiter keine heiße Spur gefunden, komme wohl der Moment, räumt Zaiß ein, „an dem die Chefs fragen: Wo wollt ihr hin?“.

So gründlich ist kriminalistische Logik noch selten ins Leere gelaufen. Zentrale Puzzleteile des Falls lassen sich nicht zusammenfügen. Die Täter, glauben Zaiß und seine Kollegen, haben das Ehepaar Bögerl nicht zufällig ausgewählt. Sie kannten die Lebensumstände Maria Bögerls, machten einen Fluchtplan, zu dem ein Fahrzeugwechsel gehörte, schnitten einen Ast von einer Birke im Wald, ganz in der Nähe von der Stelle, an der die Leiche des Entführungsopfers später unter Reisig versteckt wurde. An den Stock wurde die Deutschlandfahne angeheftet, die für den Vorstandsvorsitzenden der Heidenheimer Kreissparkasse, Thomas Bögerl, die Geldablagestelle an der Autobahn 7 markierte.

Was innerhalb dieses Rahmens geschah, trägt jedoch wirre Züge. Der Entführer muss sich dem Wohnhaus der Bögerls am Vormittag des 12. Mai, zwischen 10.30 Uhr und 11 Uhr, zu Fuß genähert haben. Man muss sich das vorstellen: Es war heller Tag, das Haus der Bankiersfamilie liegt am Ende einer lückenlos bebauten Sackgasse, in der Fremde leicht auffallen können. Maria Bögerl wird zu Hause überwältigt und in ihrem eigenen schwarzen A-Klasse-Mercedes verschleppt. Der Täter bedroht sein Opfer dabei mit einem längeren Küchenmesser, die spätere Mordwaffe.

Weitere Ungereimtheiten

Das verstehen die Ermittler bis heute nicht. Warum wählt der Mörder nicht ein Klappmesser, das sich besser transportieren und verstecken lässt? Und die Ungereimtheiten gehen weiter. Gegen 11.25 Uhr klingelt das Handy von Thomas Bögerl, der Entführer, berichtete der Ehemann nachher, habe, beherrscht und in schwäbischem Akzent, ein Lösegeld von mehr als 300 000 Euro gefordert. Was für eine seltsame Summe – bei Weitem zu niedrig für jemanden, der damit rechnen muss, sich den Rest seines Lebens verstecken zu müssen. Für wen sind 300 000 Euro viel Geld? Für einen Heranwachsenden? Für jemanden, der kalkuliert, dass der Heidenheimer Bankchef innerhalb der geforderten Zeit von gerade einmal drei Stunden auch tatsächlich spurt? „Vielleicht war es jemand, der genau dieses Geld irgendwo schuldete“, wendet Volker Zaiß ein. Das sei das Grundproblem des Falls: „Für jede These gibt es eine Gegenthese.“

Zwei Profiler-Teams ermitteln

Gleich zwei unabhängig voneinander arbeitende Profiler-Teams haben sich im Abstand von einem Jahr mit den Spuren und Merkmalen des Verbrechens beschäftigt. Es entstand das Bild eines Haupttäters, kräftig, brutal, mit einer surreal wirkenden Risikobereitschaft und einiger Fähigkeit zur Selbstkontrolle. Aber an keinem der vier Tatorte – dem Bögerl-Haus, der A-Klasse, dem Leichenfundort und dem Hof des Klosters Neresheim – hätten die Täter eine Handschrift hinterlassen, die für die Profiler letztgültig verstehbar sei, sagt Zaiß. Wie Schatten bewegten sich die Verbrecher, vorbei an vielen Spaziergängern, Joggern, Arbeitern und Touristen, die am 12. Mai 2010 in Tatortnähe waren.

Und dann, vielleicht weil das Geld nicht rechtzeitig von Thomas Bögerl zur Deutschlandflagge an der Betriebsausfahrt der A 7 bei Heidenheim gebracht werden kann, weil er die Anwesenheit von Polizisten bemerkt, vielleicht auch weil Maria Bögerl, wie im „Aktenzeichen“-Film dargestellt, einen Fluchtversuch unternimmt, ersticht einer der Entführer sein Opfer und flieht. Gehört das auch zum Plan? In Tötungsprozessen vor Gericht sind Küchenmesser zumeist die Tatwaffen enttäuschter Liebhaber, in die Enge gedrängter Frauen, verzweifelter, zorn- oder racheerfüllter Gestalten. Kannte der Täter Maria Bögerl so gut, dass er sie zu hassen imstande war? Bevorzugt, wer kaltblütig die Beseitigung seines Opfers plant, nicht eine Distanzwaffe wie eine Pistole? Und trägt er nicht Sorge, wie der Leichnam zu verbergen sei?

Die Leiche wird von einem Spaziergänger entdeckt

Der Mörder schneidet, ganz in der Nähe der späteren Leichenfundstelle, einen gut zwei Meter langen Birkenast für seine Deutschlandflagge ab und transportiert ihn, obwohl der Stock kaum in ein geschlossenes Auto gepasst haben kann, 1,4 Kilometer bis zur Autobahn 7. Aber für die tote Maria Bögerl gräbt er nicht einmal ein Loch. Ihre Leiche wird von einem Spaziergänger mit Hund erst am 3. Juni 2010 unter einem Reisighaufen gefunden. Die Hände sind mit eisernen Handschließen der Marke Bianchi gefesselt.

Die Umstände des Leichenfundes haben der Sonderkommission 2010 viel Kritik eingebracht. Mehrere Tage zuvor hatte nämlich eine Einsatzhundertschaft der Polizei genau jenes Waldstück zwischen den Orten Nietheim und Niesitz durchsucht – und nichts gefunden. Eine Schlamperei sei das gewesen, wichtige DNA-Spuren des Täters könnten im Dauerregen jener Tage verloren gegangen sein, wurde nachher in den Zeitungen kritisiert. Jetzt sagt Volker Zaiß, der damals noch nicht Leiter der Sonderkommission war: „Es gibt Anhaltspunkte, dass die Leiche erst später da hinkam.“ Welche Anhaltspunkte das sind, will der Soko-Chef nicht verraten. Möglicherweise spielt ein unter Verschluss gehaltenes Gutachten zum Todeszeitpunkt Maria Bögerls eine Rolle.

Jedenfalls wird so verständlicher, weshalb die Polizei glaubt, dass die Täter nicht nur über eine profunde Kenntnis der örtlichen räumlichen Verhältnisse verfügen, sondern auch in der Region leben müssen. Eine durchreisende Mörderbande versteckt sich wohl kaum erst einige Tage, wartet die Geländeabsuchungen der Polizei ab und platziert dann den Leichnam des Opfers in die Nähe des Tatgeschehens um.

Am Freitag, dem 14. Mai 2010, zwei Tage nach der Entführung, wird Maria Bögerls A-Klasse im Innenhof des Klosters Neresheim entdeckt. Daneben steht ein Baum, unter dem mehrere Kippen selbst gedrehter Zigaretten, Marke Gizeh, liegen. Sind das Spuren eines wartenden Helfers? Von dem Lösegeldanruf um 11.25 Uhr an bis zur Geldübergabe waren rund zwei Stunden Zeit. Gut möglich, dass währenddessen die schwarze A-Klasse abgestellt und gegen ein anderes Fahrzeug, vielleicht auch ein Motorrad, getauscht wurde, um die zwölf Kilometer zurück zur Autobahn 7, zum Erpresserlohn, zu fahren.

Foto des Autos

Möglich aber auch, dass die Täter die A-Klasse erst am Tatabend oder am 13. Mai, einen Tag nach der Entführung und dem Mord, gegen einen fahrbaren Untersatz getauscht haben, der im Ort Neresheim, in dem Wohngebiet zwischen der Heidenheimer Straße und der Sudetenstraße, bereitgestellt war. Mehrere Anwohner dort hätten passende „Fahrzeugsichtungen“ gemacht, sagt Volker Zaiß. Eine Unsicherheit bleibt, es gibt allein im Landkreis Heidenheim mehr als 600 schwarze A-Klasse-Autos, ein hoher Anteil davon gefahren von Frauen im Alter Maria Bögerls.

Gewiss ist nur, dass das Tatfahrzeug spätestens am Mittag des 13. Mai abgestellt wurde. Um 12.11 Uhr drückte ein Tourist im Klosterhof auf den Auslöser seiner Kamera; bis heute das früheste Foto, auf dem die zurückgelassene A-Klasse zu sehen ist.

Während öffentlich immer wieder über die Möglichkeit eines Massengentests in den Gemeinden des Härtsfeldes, jener Hochfläche zwischen Aalen, Nördlingen, Heidenheim und Neresheim, geredet wird, hat die Polizei etwas Vergleichbares im Stillen bereits gemacht. Per Gerichtsbeschluss wurden beispielsweise Speichelproben aller infrage kommender Waldarbeiter im 40 Quadratkilometer umfassenden Gebiet zwischen dem Leichenfundort und dem Kloster Neresheim genommen und mit Tatortspuren abgeglichen. Auch die Klostermitarbeiter sind überprüft worden. Über die Monate wurden so mehr als 3000 Männer, Freiwillige und Unfreiwillige, getestet. Die Täter waren nicht dabei.

Selbst mit einem zentralen Beweisstück, den Handschellen der Marke Bianchi, Modellreihe 505, die zwischen den 70er und 90er Jahren hergestellt worden sein müssen, scheint es wie verhext zu sein. Auf der Rückseite ist der Schriftzug „Taiwan“ eingepresst. Die Polizei glaubt nicht, dass es sich um ein Plagiat handelt. „Es ist auch kein Sexartikel“, sagt Markus Martz. Er ist mit Kollegen bei der Nürnberger Waffenmesse IWA, der weltweit größten ihrer Art, „tingeln gegangen“, hat Händler befragt, fand frühere Bianchi-Mitarbeiter in den USA. Niemand weiß, wo solche Handschellen jemals verkauft wurden.

Hobbydetektive tummeln sich im Netz

Die Schließen seien keine offene Handelsware gewesen, erörtern die Hobbydetektive in Internet-Fachforen. Italienische Carabinieri hätten die Marke mal geführt, doch der Vertrieb sei nicht über den Einzelhandel gelaufen. Es scheint, als sei Maria Bögerl mit mehr als 20 Jahre alter Behörden-Qualitätsware wehrunfähig gemacht worden. Doch da ist die Spur zu Ende.

Das „wahnsinnige Glück“, das Volker Zaiß den Tätern zuschreibt, ist zugleich das Unglück der Ermittler. Der Tag scheint nahe, da der Soko-Chef zugeben muss, was schmerzlich zu sagen ist: die Großjagd ist vorbei, die Mörder sind bis auf Weiteres entkommen.