Ein Leben auf fünf Saiten: Als erster überhaupt ist der 75-jährige Eberhard Weber mit dem Jazz-Sonderpreis des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet worden.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Stuttgart im Januar, zehn Uhr am Morgen, ein Hotel hinter der Liederhalle. Eine Couch, zwei Sessel. In einem der beiden sitzt der Bassist Eberhard Weber, aus Südfrankreich zu Besuch in seiner Geburtsstadt, um Auskunft zu geben, oder, wie seine Autobiografie jetzt heißt, ein „Résumé“ zu ziehen. Hinter der Gardine schaut der Tag aus wie dünne Grießsuppe, und wenn man jetzt bei sich daheim wäre in der Stadt, würde man wahrscheinlich zur Stimmungsaufhellung etwas von Eberhard Weber spielen: „Seriously deep“, „The following Morning“, The Colours of Chloë“, „Silent for a While“ oder „Cambridge“: unerhört weiche, volle, vollendet in sich ruhende, immer wieder buchstäblich aufbrechende, immer wieder überraschende Musik. Dann käme jemand zur Tür herein und sagte, was noch fast jeder gesagt hat, der je zur Tür hineinkam, wenn Musik von Eberhard Weber lief: „Das ist schön.“ Und der Tag wäre wieder ein anderer.

 

Eberhard Weber versteht, was man meint, obwohl es ihn auch heute, mit 75 Jahren, immer noch ein bisschen erstaunt, dass so viele Menschen auf der Welt – und so viele unterschiedliche dazu – so lange schon mit seinen sehr speziellen Klängen leben und oft gar nicht genug davon bekommen konnten, schon gar nicht beim Konzert. Am Ende, sagt Eberhard Weber, dem man schwerlich Superlative entlocken kann, sei das auf der Bühne stets ein besonderer Moment gewesen, wenn das Licht nach dem regulär beendeten Auftritt länger gedimmt war, der Applaus aber anhielt und erneut die Beleuchtung anging, vor der ersten Zugabe: „So ein Schrei manchmal“, sagt Weber, „als ob ein entscheidendes Tor gefallen wäre.“ Und dann schmunzelt er dieser weltweit gleich erlebten Szene ein bisschen hinterher, ganz wie er in solchen Situationen im Konzert leise lächelte, auf dem Weg zurück, um noch einmal anzusetzen.

„Encore“ heißt Eberhard Webers vermutlich letztes Album, das Ende Februar ausgeliefert wird, und wieder schließt sich ein Kreis, denn über den Puls des Weber’schen Basses, der im Ostinato die Zeit aufhebt, steigt manchmal, wirklich wie ein Vogel in die Luft, ganz frei, der Flügelhornton des Niederländers Ack van Royen, der schon mit Weber gespielt hat, als dieser nicht das Kontrabassspielen im Allgemeinen, aber auf jeden Fall sein Kontrabassspiel und seinen ureigenen Klang erfunden hat.

Die „Oma“, die wie Orpheus singt

Mit fünf Saiten statt vier auf dem Griffbrett wurde aus dem im Jazz häufig perkussiv und, wie Eberhard Weber sagt, „dienend“ eingesetzten Bass ein völlig anderes Instrument. Die „Oma“, wie die Musiker zum schwerfälligsten Körper unter den Streichern sagen, konnte auf einmal wie Orpheus singen. Und, ja, selbst Steine zum Weinen bringen, kein Schmu. Damals formierte Weber nach „Chloë“, das war 1974, seine hernach weltberühmte Gruppe Colours. Wie wird der Musiker zum Maler?

„Durch Zuhören“, sagt Eberhard Weber. Das war einfach – und auch wieder nicht, denn wenn Weber, am 22. Januar 1940 in Stuttgart-Hedelfingen als Sohn eines Berliners und einer Stuttgarterin geboren, unter dem Esslinger Wohnzimmertisch hockte, um seinem Vater, dem Cellisten, und dessen Orchesterkollegen beim Musizieren im Streichquartett zuzuhören, hieß es alsbald, dass der Junge ins Bett müsse. Schließlich war am nächsten Tag Schule. Doch Eberhard Weber pfiff drauf, wie er überhaupt bereits bemerkenswert früh eine Neigung hatte, ziemlich stur zu bleiben, wenn er von etwas überzeugt war. Mit einem halben Ohr also und mit ganzem Herzen hing er nach dem Rausschmiss aus der guten Stube an der Kinderzimmerwand in der Schelztorstraße 12 und ist noch heute überzeugt davon, dass er seit den  Kammermusikabenden damals innerlich schon für einen ganz bestimmten, den „dichten Sound“ schwärmte, inklusive „Rhythmuswechsel, Harmoniesprünge und komplexer Melodielinien“. Sein Sound später.

Gerade halbwüchsig, tauscht er, mittlerweile „absolut jazzfixiert“, das Cello gegen den Kontrabass, besorgt sich bei Lausch & Zweigle Noten von Georg Shearings Standard „Lullaby of Birdland“ und orientiert sich fortan zuerst bei Martin Schwäble, einem Pianisten vom Esslinger Gymnasium, der Webers Reaktionsvermögen ausbildet, weil er bei Musik vom Blatt das Blatt auch mal Blatt sein lässt.

Musik muss erarbeitet werden

In seinem Buch „Résumé“ setzt Weber, der später mit den Weltgrößen des Jazz spielt, Schwäble ein ordentliches Denkmal, wie überhaupt alle Mitmusikanten denkbar gut wegkommen, die nicht ständig von „Kunst“ redeten, wenn sie schafften: von Erwin Lehn, Horst Jankowski und Ernst Mosch schaut sich Weber, der dem Abitur erfolgreich aus dem Weg geht, ab, was er heute noch „Handwerkszeug“ nennt. Die eigene Musik, darauf legt er Wert, sei ihm bei aller Begeisterung niemals zugeflogen, sondern musste „erarbeitet“ werden.

Bei mehr oder minder Tanzmusik und im Esslinger Lokal Zum Jägerhaus, wo Eberhard Weber Ende der fünfziger Jahre ordentlich Geld verdient, will er jedenfalls nicht stehen bleiben. Ein paar Jahre später schon hört man dann also zwar noch die Vorbilder, als Weber mit dem Wolfgang-Dauner-Trio „Dream Talk“ einspielt, aber auch, dass sich hier einer eigenständig entwickelt. Zehn Jahre danach wiederum lässt Weber, unterdessen ausgebildeter Fotograf und junger Ehemann geworden, alle Nebentätigkeiten ruhen – und heiratet endgültig den Jazz, wiewohl er sich bis heute fragt, was das eigentlich sei. Um zumindest eine ungefähre Definition gebeten, sagt Weber, im Jazz müsse es „so schwer wie möglich sein, der Musik zu folgen, doch sollten alle Spaß daran haben“.

Persönlich betrachtet kommen nun die Jahrzehnte seines Lebens, als – mit dem Produzenten Manfred Eicher und für ECM – Eberhard Webers erste Soloalbum „The Colours of Chloë“ fertig gestellt ist, aufgenommen in Ludwigsburg. Mit einem Mal ist der Autodidakt Weber, der sich „als wenig versierten Techniker“ betrachtet, gewissermaßen promoviert und wird in eine andere Umlaufbahn der Szene befördert: Der amerikanische Vibrafonist Gary Burton engagiert ihn für seine Band, in der zwei Gitarristen (Mick Goodrick und Pat Metheny) und zwei Bassisten (Steve Swallow und Eberhard Weber) sich gegenseitig befeuern.

Traute Zweisamkeit: Garbarek und Weber

Nebenher spielt Weber mit dem Gitarristen Ralph Towner, wo er auf den Saxofonisten Jan Garbarek trifft, der ihn in den achtziger Jahren in sein Ensemble integriert. Eberhard Weber, der sich mit dem Komponieren immer schwergetan hat, weil a) „selten zufrieden“ und b) „ein extrem langsamer Erfinder von Strukturen“, ist bei Garbarek glücklich, solange der schweigsame Norweger ihm bedeutet, er sitze im Konzert stets gespannt dabei, wenn Weber bei den Überleitungen zwischen den fest getimten Blöcken solistisch auf die Reise gehe: im Irgendwo anfangend, im Nirgendwo endend.

Garbarek liebt das, und die Leute lieben es, und also findet Weber immer mehr Freude daran, mit seinem selbst entwickelten, fast körperlosen Bass, mittels Echogerät und anderer technischer Hilfsmittel in ein Selbstgespräch zu geraten. Dabei verhehlt er heute nicht, dass er sich mitunter selbst kaum folgen konnte oder ideenlos auf der Stelle trat, wenn er anfangs das Publikum für sich allein hatte. Vielleicht ist es bezeichnend, dass Eberhard Weber als Solist am meisten Erfolg in England hatte, wo man eine leise Exzentrik, wie in seinem Fall zweifellos vorhanden, in der Kombination mit hyperexaktem Handwerk zu schätzen weiß: „Engländer“, sagt Eberhard Weber, „haben mich immer sehr gemocht“, und er führt das vor allem auf seine eher humoristischen Conférencen im Konzert zurück.

Zu seinen größten Fans auf der Insel zählt die Sängerin Kate Bush, für die Weber dann auch Bass spielt, von „Hounds of Love“ bis „Aerial“. Als Kate Bush im vergangenen Sommer nach fünfzehn Jahren Bühnenabsenz in London wieder zehn Shows hintereinander spielt, läuft vor jedem Auftritt die komplette „Pendulum“-CD von Eberhard Weber, wo er manchmal alleine klingt wie ein Streichquartett, wenn nicht nach mehr. „Pendulum“ war noch eine Revolution, oder zumindest eine weitere große Metamorphose des Musikers Weber. Als wären Zeilen von Joseph von Eichendorff Klang geworden: „Und die ewigen Gefühle/Was dir selber unbewusst/Treten heimlich, groß und leise/Aus der Wirrung fester Gleise/Aus der unbewachten Brust/In die stillen, weiten Kreise.“

Der Schlaganfall

Immer noch das Zimmer in dem Stuttgarter Hotel, draußen der Tag, Eberhard Weber im Sessel. Auf den Beistelltisch hat er seinen Stock gelegt. Er braucht ihn zum Gehen, seit er im April 2007 in Berlin zu einem Abendkonzert in die Philharmonie wollte, dann aber schließlich in der Charité landete: Schlaganfall. Das ist der Moment, in dem ihm der Bass zum ersten Mal in seinem Leben entgleitet. Er kann mit links die Saiten nicht mehr greifen. Vor knapp acht Jahren also verabschiedet er sich als Musiker still und leise, wie es seine Art ist.

Allerdings wäre Weber nicht Weber, wenn er sich nicht noch einmal zurückkämpfte, schließlich hat er von den Tourneen mit Jan Garbarek noch kostbares, unbearbeitetes Rohmaterial gespeichert. Noch einmal organisiert der schwäbische Tüftler seine Musik um, indem er die mitgeschnittenen Improvisationen auf „Résumé“ wie auf „Encore“ jetzt bearbeitet wie der Maler William Turner die Leinwände: Unter die Ursprungsidee zieht er, vom Keyboard und Mischpult aus, dichte Grundierungen ein, so dass auf einmal deutlicher Form annimmt, was vorerst nicht mehr war als ein musikalischer Umriss: eine Zugabe in Bradford, Edinburgh, Konstanz oder Sevilla. Die Stücke heißen nach den Orten, und es „rauscht die Erde wie in Träumen“, wie der Dichter sagt.

„Es war, wie es war, und es ist, wie es ist“, sagt Eberhard Weber. Er hat keine Angst vor einem Leben ohne Musik, weil Musik sein Leben gewesen ist und weiter in ihm klingt. Das bleibt. Und dann hat Eberhard Webers Musik das Leben von vielen Menschen ja nun mal, wie soll man sagen – beflügelt. Beflügelt. Reicht das? Jedenfalls kommt da viel zurück, und Weber ist ein wenig bang, wenn jetzt im Theaterhaus bei der Überreichung des Jazz-Sonderpreises womöglich alle für ihn aufstehen. Er mag das eigentlich nicht: Ovationen. Aber da müssen wir jetzt wohl durch.