Martin Walser auf dem Pfad der Dämmerung: sein an diesem Freitag erscheinender Roman „Ein sterbender Mann“ umspielt erneut die Unmöglichkeit der Liebe und den Verrat.

Stuttgart - Quasi aus Versehen unterläuft dem deutschen Schlager zuweilen ein Moment der Wahrheit: „Nur die Liebe lässt uns leben“, Mary Roos’ Grand-Prix-Erfolg (dritter Platz) von 1972, fasst bündig in einen Satz, worauf Sigmund Freud viele hundert Seiten verwandte und die Dichter Myriaden von Wörtern: Die Möglichkeit der Liebe macht den Skandal, dass alles Leben auf den Tod hinausläuft, zeitweise erträglich. Und die Unmöglichkeit der Liebe wiederum ist angetan, den Tod in seine Herrschaft einzusetzen.

 

Martin Walsers neuer Roman trägt den Titel „Ein sterbender Mann“. Wer annimmt, hier stimme ein Autor in seinem 88. Lebensjahr sich und seine Leser friedlich und heiter auf die letzten Dinge ein, wird sein blaues Wunder erleben. Vielmehr ein „mittelmeerisches“ Wunder. Mit diesem alles versprechenden Attribut kennzeichnet Theo Schadt die Frau, um die sich plötzlich seine ganze Lebenserwartung dreht. Er begegnet ihr, weil er nach dem Ruin seiner Firma im Laden seiner Ehefrau – einem Laden für Tangobedarf – an der Kasse sitzt: „Als sie bezahlte, wurde ihm schwindlig. ( . . .) Eine Explosion. Nur noch Licht. Grellste Helle. ( . . .) Von einer unruhigen Lichtfülle gerahmt, sie in aller Schwärze, eine Jacke, Leder, schwarz, bis zur Hüfte, nach links tendierend, von ihr aus gesehen nach rechts. Der kleine Pelz als Kragen reicht weit herein. Die schwarzen Haare über alles um sie herum.” Das schwarze Zentrum der blendenden Lichterscheinung heißt Sina Baldauf. Sie ist Anfang fünfzig , vom 72-jährigen Theo Schadt aus gesehen eine junge Frau.

Dass Sina Baldauf auch auf den Leser jünger wirken mag als manch andere Frau von fünfzig Jahren in der Literaturgeschichte, liegt daran, dass ihr Autor sie mit allem ausstattet, wovon die Welt gemeinhin annimmt, in dem Alter sei man doch drüber weg. Diese Frau, erotisch und geschäftlich erfolgreich, ist angreifbar, sie ist in der Lage, sich für einen Tango, für eine Tanda, vielleicht für eine Milonga in einen Tanzpartner zu verlieben, genauer: in seine Art, „rasante Drehungen im Inneren der Achse“ zu ermöglichen. Ihr Beziehungsstatus: „da, einem Mann seine triste Ehe erträglich zu machen“. Ihr Trauma: der von allem Anfang an abwesende Vater.

Theatralisches Pistolengefuchtel

Die katastrophalen Kippfiguren, die entstehen, wenn die Liebe ins Leben tritt und wenn sie daraus verschwindet, sind spätestens seit dem „Augenblick der Liebe“ (2004) ein wichtiges Motiv des Romanciers Martin Walser gewesen. Liebeswunsch und Todeswunsch und die Verbindung von beidem stehen auch jetzt wieder in engster Verbindung, denn schon im ersten Kapitel wird davon berichtet, wie sich zwei in einem „Suizidforum“ im Internet kennenlernen. Das ist sozusagen die Steigerung des theatralischen Pistolengefuchtels, mit dem im Vorgängerroman „Die Inszenierung“ der Held am Schluss die Bühnenlösung herbeizuführen suchte.

Die Todeskandidaten im Suizidforum scheinen andere Kaliber zu sein. Im Austausch über die am wenigsten Schmerz und Überlebensrisiko versprechenden Arten sich umzubringen sind sie echte Profis, und früher oder später machen sie ernst. Theo Schadt tastet sich auf diesem virtuellen Pfad der Dämmerung voran, weil er „verraten wurde von dem einzigen Menschen, der mich nicht hätte verraten dürfen“. Schadt berichtet all dies in Briefen an einen „sehr geehrten Herrn Schriftsteller“, dazwischen vollzieht sich die Handlung in Beiträgen auf dem Suizidforum und in Direktmitteilungen, die Theo Schadt, der sich hier „Franz von M.“ nennt, mit einer „Aster“ wechselt, in Briefen und Mails, die Theo von Sina bekommt und sendet (oder auch nicht).

Besonders streng nimmt Walser – wie schon im „Dreizehnten Kapitel“ – es mit der Form des Briefromans nicht. Aber wo steht geschrieben, dass ein Brief kein Ort für ein Gedicht sein darf, für Maximen und Reflexionen, die an Walsers aphoristisches Alter ego Meßmer gemahnen, für Beobachtungen wie aus Walsers Tagebüchern?

Mancherlei, was in diesem Buch eine Rolle spielt, ist dem Walser-Leser vertraut: Theo Schadt, ehemals erfolgreich in der Sphäre des Geldes wie Karl von Kahn in „Angstblüte“, verliebt sich wie Basil Schlupp im „Dreizehnten Kapitel“ blitzartig in eine unerreichbare Frau, mit der er fortan nur schriftlich verkehren kann. Wie Kahn ruiniert Schadt über allem seine Ehe und bleibt am Ende allein zurück. Wie Kahn und wie so viele Walser’sche Protagonisten ist das, was ihn zerschmettert, ein Verrat. Der Verräter ist sein Freund, ein Dichter namens Carlos Kroll: „Neunzehn Jahre innigste Beziehung. Eine Freundschaft, die nicht ihresgleichen hat.“ Und dann geht Carlos Kroll her und verbündet sich mit dem, der Theo Schadts riskantestes Geschäft zunichte macht.

Geld oder Genialität?

Freundschaft bei Martin Walser – ein weites Feld. Der Freundschaftsbegriff im Œuvre dieses Schriftstellers erinnert daran, dass es zwischen Männern nicht ausschließlich um schulterklopfende Zweckbündnisse zur Beförderung von Freizeitspaß und beruflichem Fortkommen gehen muss. Die „innigste Beziehung“ von Theo Schadt und Carlos Kroll ist ein Ideal, geknüpft an jenes Zeitalter, dem Theo Schadt im Suizidforum sein Pseudonym Franz von M. – nach Schillers Franz Moor – verdankt: an die Kunstepoche, in der die Helden, seien es klassische oder romantische, das höchste der Gefühle mit dem Busen des Freundes und nicht dem der Geliebten verbanden. Was solchen Freundschaften ins Gehege kommt, ist denn auch weniger die Bindung an eine Frau, sondern die immanente Selbstwert-Konkurrenz zweier Bedeutungsmarktteilnehmer. Im Fall des erfolgreichen Unternehmers Theo und des ewigen lyrischen Wunderkinds Carlos ist es das Wetteifern zwischen dem Mann mit dem Geld und dem mit der Genialität. Und, so Walsers Sprengsatz am Klischee, der mit dem Geld ist der Verlierer, derjenige, der „verratbar“ wird. Derjenige, der gar nicht konkurrieren will, sondern lieben.

Jetzt will Theo Sina lieben, aber Sina will sterben. Auf der Suche nach den Wurzeln ihres Todeswunschs reist sie ins Land ihres Vaters. Die finsteren Augenblicke der Wahrheit unter der gnadenlosen Sonne des Maghreb, beim Tango-Tanzen in Algier, schildert sie in einem langen Brief, der jedem das Herz zerreißen müsste. Aber Theo versteht nur „Tangodurchdrungenheit“. Versteht also nichts und reagiert mit Eifersucht. Und mit Kafka: „Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt – es ist niemals gutzumachen.“ Es ist dann auch wirklich nichts mehr gutzumachen.

„Ein sterbender Mann“ enthält auf seinen knapp 300 Seiten vieles von dem, womit Martin Walser seit sechzig Jahren Leser zu Liebhabern macht: grell ausgeleuchtete Münchner Party-People, Kabinettstückchen aus Fernsehstudios und Literaturhäusern, ziemlich bekannte Gesichter und ziemlich ungemischte Gefühle. Maßlose Übertreibungen, todesbittere Pointen – und eine Fülle von Sätzen, die der Schönheit auf der Spur sind.